Qual
Ich-Modell, assoziiert sind, auf die Modelle anderer Menschen zu übertragen. Und diese Möglichkeit war sogar mit Lustgewinn verbunden. Ein Lustgefühl, das durch den Sex bestärkt wurde, aber nicht nur durch den Akt wie beim Orgasmus. Und bei Menschen ist es nicht einmal auf Sexualpartner beschränkt. Intimität ist nur der Glaube – eine Belohnung durch das Gehirn –, daß wir die Menschen, die wir lieben, genauso gut kennen, wie wir uns selbst kennen.«
Das Wort ›lieben‹ war wie ein kleiner Schock inmitten dieser soziobiologischen Ausführungen. Doch er hatte es ohne Spur von Ironie oder Verlegenheit benutzt – so als hätte er nahtlos die Vokabularien der Emotion und Evolution zu einer einzigen Sprache verschmolzen.
Ich sagte: »Und sogar der partielle Autismus macht all das unmöglich? Weil man kein Modell erstellen kann, das gut genug ist, um jemanden wirklich zu kennen?«
Rourke hielt nichts von Ja-oder-Nein-Antworten. »Auch in dieser Hinsicht sind nicht alle Autisten identisch. Manchmal ist das Modell durchaus akkurat – zumindest so akkurat wie bei anderen Menschen – aber es gibt keine Belohnung, weil die Teile des Lamont-Zentrums fehlen, die dafür sorgen, daß sich die meisten Menschen mit der Intimität wohl fühlen und sie aktiv anstreben. Solche Personen werden als ›kalt‹ oder ›unnahbar‹ wahrgenommen. Und manchmal trifft das absolute Gegenteil zu, wenn Menschen nach Intimität suchen, doch ihre Modelle so unzulänglich sind, daß sie sie niemals finden werden. Vielleicht fehlen ihnen die sozialen Fähigkeiten, um eine dauerhafte sexuelle Beziehung aufzubauen – oder wenn sie intelligent und einfallsreich genug sind, um die sozialen Probleme zu umgehen, ist es vielleicht das Gehirn selbst, das das Modell als mangelhaft beurteilt und die Belohnung verweigert. Dann wird der Trieb niemals befriedigt, weil es physisch unmöglich ist, ihn zu befriedigen.«
»Sexuelle Beziehungen sind für jeden schwierig«, sagte ich. »Es wurde behauptet, daß Sie lediglich ein neurologisches Syndrom erfunden haben, das es Ihnen erlaubt, die Verantwortung für Probleme, mit denen jeder konfrontiert ist, zurückzuweisen.«
Rourke starrte auf den Fußboden und lächelte nachsichtig. »Also sollten wir uns nur zusammenreißen und uns mehr Mühe geben?«
»Entweder das, oder Sie lassen eine Autotransplantation durchführen, um den Schaden zu beheben.« Man konnte dem Gehirn eine geringe Menge von Neuronen und Gliazellen entnehmen, die ins Embryonalstadium zurückversetzt wurden, um sie in Gewebekulturen zu vermehren und anschließend wieder in die geschädigte Region zu injizieren. Ein künstlich aufrechterhaltener Gradient von embryonalen Regulatorhormonen gaukelte den Zellen vor, sie würden sich in einem wachsenden Gehirn befinden, so daß sie dazu verleitet wurden, noch einmal die notwendigen synaptischen Verbindungen herzustellen. Die Erfolgsrate war bei totalen Autisten nicht sehr beeindruckend – doch bei Personen mit relativ geringfügiger Schädigung lag sie bei fast vierzig Prozent.
»Die Freiwilligen Autisten haben keine Einwände gegen diese Option. Wir fordern nur, die Alternative zu legalisieren.«
»Die Vergrößerung der Schädigung?«
»Ja. Bis zur vollständigen Entfernung des Lamont-Zentrums.«
»Wieso?«
»Auch das ist eine sehr komplizierte Frage. Jeder hat einen anderen Grund. Generell würde ich sagen, daß wir über die größte Spannweite an Möglichkeiten verfügen sollten. Wie die Transsexuellen.«
Damit spielte er auf eine andere Methode der Gehirnchirurgie an, die vor einiger Zeit sehr kontrovers diskutiert worden war: NGR – die neurale Geschlechtsreformierung. Menschen, bei denen der neurale und physische Geschlechtstyp nicht zusammenpaßte, konnten sich seit fast einem Jahrhundert mit ständig verbesserter Präzision körperlich umgestalten lassen. In den Zwanzigern jedoch war eine neue Möglichkeit zur Anwendungsreife gelangt, nämlich die Änderung des zerebralen Geschlechts, die Umprogrammierung des neuralen Selbstbildes, um es mit den körperlichen Tatsachen in Übereinstimmung zu bringen. Viele Menschen – darunter auch viele Transsexuelle – hatten leidenschaftlich gegen die Legalisierung von NGR protestiert, weil sie Zwangsumwandlungen oder chirurgische Eingriffe bei Kleinkindern befürchteten. Doch in den Vierzigern war diese Operation allgemein als legitime Möglichkeit akzeptiert, für die sich etwa zwanzig Prozent aller Transsexuellen
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