Qual
Fällen extremen Mißbrauchs ist die Erziehung jedoch kein relevanter Faktor. Autismus wird nur durch angeborene Hirnschäden oder spätere Verletzungen des Gehirns verursacht. Es gibt genetische Faktoren, die die Anfälligkeit für Vireninfektionen in utero beeinflussen – doch grundsätzlich ist Autismus keine simple Erbkrankheit.«
Ich hatte bereits einen Experten im weißen Kittel gefilmt, der mehr oder weniger dasselbe gesagt hatte, aber das detaillierte Wissen der IFA-Mitglieder über ihren Zustand war ein wichtiger Aspekt der Geschichte. Außerdem war Rourkes Erklärung wesentlich verständlicher als die des Neurologen.
»Die betroffene Gehirnregion stellt nur einen kleinen Teil des linken vorderen Lappens dar. Die spezifischen Informationen über eine individuelle Person sind über das gesamte Gehirn verstreut – wie alle Erinnerungen –, doch diese Region ist der spezifische Ort, an dem diese Informationsbruchstücke automatisch verknüpft und gedeutet werden. Wenn er beschädigt ist, kann der Betroffene immer noch die Handlungen anderer Menschen wahrnehmen und erinnern – aber diese Informationen verlieren ihre besondere Bedeutung. Sie führen nicht mehr zu den ›offensichtlichen‹ Schlußfolgerungen, sie ergeben nicht mehr unverzüglich einen Sinn.« Jetzt war wieder das Neuronenschema zu sehen, diesmal mit der Schädigung. Und wieder folgte ein Funktionsdiagramm, das nun jedoch mit gepunkteten roten Linien gezeichnet war, um die verlorenen Beziehungen zu illustrieren.
»Die fragliche Gehirnregion begann sich vermutlich erst bei den Primaten zu entwickeln und formte sich bis zur gegenwärtigen Gestalt beim Menschen aus, wenngleich es Vorläufer bei früheren Säugetieren gab. Sie wurde erstmals im Jahre 2014 von einem Neurowissenschaftler namens Lamont bei Schimpansen nachgewiesen und untersucht. Beim Menschen wurde die entsprechende Region wenige Jahre später identifiziert.
Die ursprüngliche Funktion des Lamont-Zentrums bestand vermutlich darin, Täuschungen und Lügen zu ermöglichen. Unsere Vorfahren lernten, ihre wahren Motive zu verbergen, indem sie verstanden, wie die anderen jemanden wahrnahmen. Wenn man weiß, wie man unterwürfig oder kooperativ wirkt, unabhängig von den wahren Intentionen, dann hat man eine bessere Chance, Nahrung zu stehlen oder mit dem Partner eines anderen Artgenossen zu kopulieren. Doch letztlich hätte die natürliche Auslese wiederum für einen Ausgleich gesorgt und jene begünstigt, die den Betrug durchschauen konnten. Nachdem die Lüge erst einmal erfunden war, gab es kein Zurück mehr. Die Entwicklung löste einen Schneeballeffekt aus.«
»Also könnten totale Autisten nicht lügen«, sagte ich, »oder beurteilen, ob jemand anderer lügt. Aber die partiellen Autisten…?«
»Einige können es, andere nicht. Es hängt ganz von der spezifischen Schädigung ab. Wir sind nicht alle identisch.«
»Gut. Aber wie steht es mit Beziehungen?«
Rourke wandte den Blick ab, als wäre dieses Thema unerträglich schmerzvoll – aber er sprach ohne jedes Zögern weiter, wobei er wie ein redegewandter Pressesprecher klang, der einen auswendig gelernten Text vortrug. »Die Erstellung eines erfolgreichen Modells anderer Menschen kann sowohl zur Kooperation als auch zur Täuschung eingesetzt werden. Die Empathie kann auf jedem Level der Verbesserung des sozialen Zusammenhalts dienen. Doch als die Frühmenschen einen höheren Grad der Monogamie entwickelten – zumindest im Vergleich zu ihren unmittelbaren Vorfahren –, wäre der Gesamtkomplex aller mentalen Prozesse, die im Zusammenhang mit der Paarbindung stehen, sehr verwickelt geworden. Die Empathie zu unserem Geschlechtspartner erlangte einen Sonderstatus, denn ihr oder sein Leben konnte für die Weitergabe der Gene unter bestimmten Umständen genauso wichtig wie das eigene Leben werden.
Natürlich beschützen die meisten Tiere instinktiv ihre Jungen oder ihre Partner, selbst wenn es auf Kosten der eigenen Sicherheit geht. Der Altruismus ist eine uralte Verhaltensstrategie. Aber wie sollte sich dieser instinktive Altruismus mit dem menschlichen Selbstbewußtsein vertragen? Als sich das Ego entwickelte, ein Gefühl für das Ich, das immer stärker in den Vordergrund trat, stellte sich die Frage, wie es daran gehindert werden konnte, alles andere zu überschatten.
Die Antwort der Evolution war die Erfindung der Intimität. Die Intimität ermöglichte es, einige oder alle bezwingenden Eigenschaften, die mit dem Ego, dem
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