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Qual

Qual

Titel: Qual Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Egan
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heftiger beleidigt, und er hatte nur auf den Bildschirm gestarrt und still gelächelt. Nicht etwa tolerant, sondern völlig selbstvergessen.
    Ich hatte drei Stunden damit zugebracht, Rourke in seiner kleinen Wohnung zu interviewen. Die Freiwilligen Autisten besaßen kein zentrales Büro – weder in Manchester noch anderswo. Ihre Mitglieder verteilten sich auf siebenundvierzig Länder – weltweit etwa eintausend Menschen – aber nur Rourke war bereit gewesen, mit mir zu reden, und auch nur, weil es sein Job war.
    Er war natürlich nicht hundertprozentig autistisch, aber er hatte mir seine Gehirnscans gezeigt.
    Ich schaute mir die Aufnahmen noch einmal an.
    »Sehen Sie diese kleine Veränderung am linken vorderen Lappen?« Es war eine winzige dunkle Stelle, ein mikroskopisches Loch in der grauen Masse über dem Pfeil des Zeigers. »Und jetzt vergleichen Sie es mit derselben Hirnregion bei einem neunundzwanzig Jahre alten hundertprozentigen Autisten.« Wieder ein dunkler Fleck, nur drei- bis viermal größer. »Und hier ist eine nicht-autistische Person desselben Alters und Geschlechts.« Überhaupt kein Fleck. »Die Pathologie ist nicht immer so offensichtlich. Das Gewebe kann auch mißgebildet sein statt sichtbar fehlend. Aber diese Beispiele unterstreichen, daß es eine konkrete Grundlage für unsere Forderungen gibt.«
    Der Bildausschnitt schwenkte vom Notepad hinauf zu seinem Gesicht. Witness fabrizierte einen eleganten Wechsel von einer stabilen ›Kameraeinstellung‹ zur nächsten – genauso wie das Programm die ruckhaften Bewegungen der Augäpfel ausglich, die unruhig immer wieder die Szene abtasteten, auch wenn der Blick nach subjektivem Empfinden fixiert war.
    »Niemand würde abstreiten«, sagte ich, »daß Sie einen Schaden in derselben Gehirnregion erlitten haben. Aber warum belassen Sie es nicht dabei und sind dankbar, daß es nur ein geringfügiger Schaden ist? Warum führen Sie nicht ein normales Leben und schätzen sich glücklich, daß Sie trotz allem ein funktionierendes Mitglied der Gesellschaft sind?«
    »Das ist eine komplizierte Frage. Zum Beispiel hängt sie davon ab, was Sie mit ›funktionieren‹ meinen.«
    »Sie können außerhalb der Institutionen leben. Sie können in qualifizierten Jobs arbeiten.« Rourke war im Hauptberuf Forschungsassistent eines akademischen Linguisten – nicht gerade eine gesicherte Anstellung.
    »Natürlich«, sagte er. »Wenn wir das nicht könnten, würde man uns als hundertprozentig autistisch klassifizieren. Das ist das Kriterium, mit dem ›partieller Autismus‹ definiert wird – wenn jemand in der normalen Gesellschaft überleben kann. Unsere Behinderung ist nicht außerordentlich, und wir können normalerweise einen großen Teil unserer Mängel durch Vortäuschung ausgleichen. Manchmal können wir sogar uns selbst einreden, daß alles in Ordnung ist. Zumindest für eine Weile.«
    »Eine Weile? Sie haben Arbeit, Geld, Unabhängigkeit. Was braucht es sonst, um zu funktionieren?«
    »Zwischenmenschliche Beziehungen.«
    »Sie meinen sexuelle Beziehungen.«
    »Nicht unbedingt. Aber diese Beziehungen sind am schwierigsten. Und am… aufschlußreichsten.«
    Er drückte eine Taste seines Notepads, worauf ein kompliziertes Neuronenschema erschien. »Jeder – oder fast jeder – bemüht sich instinktiv, andere Menschen zu verstehen. Jeder versucht zu erraten, was ein anderer denkt, möchte seine Handlungen vorhersehen. Um ihn… ›kennenzulernen‹. Die Menschen konstruieren im Kopf symbolische Modelle von anderen Menschen, die als schlüssige Repräsentationen dienen, in denen alle beobachtbaren Informationen wie Sprache, Gesten und vergangene Handlungen gesammelt werden, um dann sinnvolle Mutmaßungen über die Aspekte zu ermöglichen, die nicht direkt beobachtet werden konnten, also Motive, Absichten, Gefühlsreaktionen.« Während er redete, verblaßte das Neuronenschema und wurde durch ein Funktionsdiagramm einer ›dritten Person‹ ersetzt, die ein komplexes Netzwerk aus Kästchen darstellte, die mit objektiven und subjektiven Eigenschaften beschriftet waren.
    »Bei den meisten Menschen geschieht all dies ohne größere bewußte Anstrengung, weil sie über die angeborene Fähigkeit verfügen, ein Modell von anderen Menschen zu erstellen. Diese Fähigkeit wird in der Kindheit trainiert – und totale Isolation würde ihre Entwicklung verkümmern lassen… genauso wie das Sehzentrum in völliger Dunkelheit zurückgebildet würde. Abgesehen von solchen

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