Qual
erklärter ›Fan‹ von Mosala war, stellte vermutlich sogar einen Punkt dar, der gegen sie sprach, denn SeeNet war nicht im geringsten an einer überschwenglichen Heiligenverehrung interessiert. Doch trotz meiner behaupteten Professionalität hatte ich bislang nur einen flüchtigen Blick auf Sisyphus’ Zusammenfassung geworfen. Im Grunde hatte ich immer noch keine Ahnung, worauf ich mich eingelassen hatte.
In Wahrheit interessierten mich die Details überhaupt nicht. Es ging mir nur darum, Gepanschtes DNS hinter mich zu bringen und einen möglichst weiten Bogen um Qual zu machen. Nachdem ich mich zwölf Monate lang in den schlimmsten Exzessen der Biotechnik gesuhlt hatte, erstrahlte die makellose Welt der Theoretischen Physik vor meinem inneren Auge wie ein anästhetisiertes mathematisches Paradies, in dem alles sauber, abstrakt und herrlich abgehoben war… ein Bild, das nahtlos mit der weißen Korallenschneeflocke von Stateless verschmolz, die wie ein vollkommener Fraktalstern in den blauen Pazifik hinauswuchs. Ein Teil von mir verstand natürlich ganz genau, daß ich mit ziemlicher Sicherheit enttäuscht sein würde, wenn ich mir diese wunderbaren Vorstellungen zu sehr zu Herzen nahm – und ich malte mir sogar aus, wie ich auf möglichst unangenehme Weise auf die Erde zurückgeholt werden konnte. Ich könnte mich mit einem mehrfach resistenten Grippe- oder Malaria-Erreger infizieren, einem Virusstamm, gegen den die Einheimischen immun waren. Hochentwickelte Pharmaeinheiten, die den pathogenen Organismus identifizieren und unverzüglich eine Therapie berechnen könnten, sind aufgrund des Boykotts vielleicht nicht verfügbar, und ich wäre dann zu geschwächt, um den Rückflug in die Zivilisation wagen zu können… Es waren keineswegs unmögliche Szenarien, denn durch den Boykott waren im Laufe der Jahre Hunderte von Menschen umgekommen.
Trotzdem mußte es einfach besser sein, als leibhaftig einem Opfer der Qual gegenübertreten zu müssen.
Ich hinterließ eine Nachricht für Violet Mosala. Ich vermutete, daß sie sich noch in ihrem Haus in Kapstadt befand, doch die Software, die den Anruf beantwortete, gab keinen Hinweis auf ihren Verbleib. Ich stellte mich vor, dankte ihr für die großzügige Bereitschaft, mir ihre Zeit für das Projekt zu opfern, und ließ einige weitere belanglose Höflichkeiten vom Stapel. Ich forderte sie nicht auf, mich zurückzurufen, da ich genau wußte, daß in einem Echtzeit-Gespräch sehr schnell offenbar geworden wäre, daß ich keinerlei Ahnung von ihrem Leben und ihrer Arbeit hatte. Grippe, Malaria … und ich werde mich zum Idioten machen. Doch es war mir egal. Ich dachte nur an Flucht.
Ich hatte mich aufgeputscht, um noch einmal Daniel Cavolinis Wiederbelebung zu erleben – aber ich hätte von Anfang an wissen müssen, daß es völlig absurd war. Die Montage war niemals eine Wiedererschaffung der Vergangenheit, sondern eher wie eine Autopsie derselben. Ich hatte leidenschaftslos an der Sequenz gearbeitet, und mit jeder Stunde wurde meine Aufgabe, mir die Reaktionen der Zuschauer vorzustellen, die das alles zum ersten Mal sahen, mehr und mehr zu einer Sache der Berechnung und des Instinkts. Und gleichzeitig hatte es immer weniger mit dem zu tun, was ich selbst während dieser Ereignisse empfunden hatte. Selbst die fertig geschnittene Fassung, die einigermaßen flüssig und unmittelbar war, hatte für mich im Grunde den Charakter einer postmortalen Wiederbelebung einer postmortalen Wiederbelebung. Es war geschehen, es war vorbei, und die kurze Illusion des Lebens, die die Technik zu schaffen imstande war, konnte genausowenig aus dem Bildschirm treten und durch die Straßen spazieren wie irgendeine andere zuckende Leiche.
Daniels Bruder Luke war des Mordes angeklagt worden – und man hatte bereits auf schuldig plädiert. Ich klinkte mich in das Prozeßaufzeichnungssystem ein und überflog die Aufnahmen der drei Verhandlungen, die bislang stattgefunden hatten. Der Richter hatte ein psychiatrisches Gutachten angefordert, in dem man zur Schlußfolgerung gekommen war, daß Luke Cavolini unter gelegentlichen Anfällen ›unangemessener Wut‹ litt, bei denen er jedoch nie so weit den Kontakt mit der Realität verloren hatte, daß er als geistig krank hätte klassifiziert und gegen seinen Willen therapiert werden müssen. Er war zurechnungsfähig, schuldfähig und verstand genau, was er getan hatte – und er hatte sogar ein ›Motiv‹ gehabt, einen Streit am Vorabend, bei
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