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Qual

Qual

Titel: Qual Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Egan
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ich am Vortag zu ihm gesagt hatte.Wenn man Leute wiedertraf, nachdem man sie interviewt hatte, kam es häufig zu dem Problem, daß sie der Zwischenzeit noch einmal genau über das Gespräch nachgedacht hatten und zu der Schlußfolgerung gekommen waren, keinen guten Eindruck gemacht zu haben.
    »Es ist die älteste semantische Waffe, die es gibt«, sagte Rourke. »Denken Sie nur an all die Kategorien, mit denen bestimmte Kreise in verschiedenen Kulturenzu verschiedenen Zeiten als nicht-menschlich klassifiziert wurden. Angehörige anderer Stämme. Personen mit anderer Hautfarbe. Sklaven. Frauen. Geistig Behinderte. Taube. Homosexuelle. Juden. Bosnier, Kroaten, Serben, Armenier, Kurden…«
    Ich warf ein: »Meinen Sie nicht, daß es ein kleiner Unterschied ist, ob man jemanden in eine Gaskammer steckt oder ob man ihn rhetorisch diffamiert?«
    »Natürlich. Aber nehmen wir einmal an, Sie würden mir einen ›Mangel an Menschlichkeit‹ vorwerfen. Was bedeutet das eigentlich? Was könnte ich getan haben? Habe ich jemanden kaltblütig ermordet? Habe ich eine Hundewelpe ersäuft? Habe ich Fleisch gegessen? War ich nicht von Beethovens Fünfter gerührt? Oder habe ich einfach nur ein Gefühlsleben, das nicht in jedem einzelnen Aspekt mit Ihrem identisch ist? Oder teile ich nicht die Gesamtheit Ihrer Werte und Ziele?«
    Ich hatte nicht geantwortet. Radfahrer surrten im dunklen Dschungel hinter mir vorbei. Es hatte zu regnen begonnen, aber das Blätterdach schützte uns.
    Rourke sprach angeregt weiter. »Die Antwort lautet: Es könnte jede dieser Möglichkeiten sein. Deshalb ist es so verdammt unkompliziert. Wessen ›Menschlichkeit‹ in Frage gestellt wird, der rückt in die Nähe von Massenmördern – womit man sich die Mühe erspart, irgend etwas Intelligentes über die Ansichten des Betreffenden sagen zu müssen. Und man beruft sich auf eine große imaginäre Zustimmung, auf den Beifall einer empörten Mehrheit, die hinter einem steht und einem Rückendeckung gibt. Wenn Sie behaupten, die Freiwilligen Autisten würden auf ihre Menschlichkeit verzichten, dann definieren Sie dieses Wort, als hätten Sie die göttliche Befugnis dazu… und Sie implizieren, daß jeder andere auf diesem Planeten – abgesehen von den Reinkarnationen von Adolf Hitler und Pol Pot – in jedem Detail mit Ihnen übereinstimmt.« Er breitete die Arme aus und rief zu den Bäumen hinauf: »Ich flehe Sie an, legen Sie das Skalpell nieder… im Namen der Menschlichkeit’.«
    »Okay«, sagte ich lahm. »Vielleicht hätte ich gestern einige Dinge etwas anders formulieren sollen. Ich hatte nicht die Absicht, Sie zu beleidigen.«
    Rourke schüttelte amüsiert den Kopf. »Ich mache Ihnen keinen Vorwurf. Schließlich ist es ein Kampf – und ich kann nicht erwarten, daß unsere Gegner sofort kapitulieren. Sie glauben an eine sehr eingeengte Definition des großen Wortes – und vielleicht sind Sie sogar aufrichtig davon überzeugt, daß jeder andere genauso denkt. Ich vertrete eine weiter gefaßte Definition. Wir haben uns geeinigt, daß wir uns uneinig sind. Und jetzt sitzen wir im Schützengraben.«
    Eingeengt? Ich hatte den Mund geöffnet, um die Anschuldigung zurückzuweisen, aber ich hatte gar nicht gewußt, wie ich mich verteidigen sollte. Was hätte ich sagen sollen? Daß ich vor einiger Zeit eine positive Dokumentation über Geschlechtsmigration gemacht hatte? (Wie großherzig von mir!) Und jetzt mußte ich es durch eine Frankensteinologie-Geschichte über Freiwillige Autisten ausgleichen?
    Also hatte er das letzte Wort gehabt (wenn auch nur in Echtzeit). Er hatte meine Hand geschüttelt, und wir hatten uns getrennt.
    Ich ließ die gesamte Aufnahme noch einmal durchlaufen. Rourke war bemerkenswert redegewandt – und auf seine eigene Art beinahe charismatisch – und alles, was er gesagt hatte, besaß Hand und Fuß. Aber seine private Terminologie, die manischen Ausbrüche… all das war zu absonderlich, zu konfus und zu kontrovers.
    Ich beließ es dabei, nichts aus diesem Take zu verwenden.
    Dann war ich zu einer weiteren Verabredung an der Universität gegangen: ein Nachmittag mit der berühmten MIRG – der Medical Imaging Research Group in Manchester. Ich hatte es für eine ausgezeichnete Gelegenheit gehalten – schließlich hatte das Imaging wesentlich zur definitiven Identifikation des partiellen Autismus beigetragen.
    Ich sah mir die Aufnahmen im Schnelldurchlauf an. Es waren viele gute Sachen dabei, die vielleicht eine lohnenswerte

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