Qual
Sein Privatleben ging mich nichts an.
Außerdem gab es noch ein zwangloses Gespräch, das ich am Tag nach dem Interview mit Rourke geführt hatte. Wir waren über den Universitätscampus spaziert, nachdem ich ihn einige Minuten lang bei der Arbeit gefilmt hatte – er hatte einem Computer geholfen, die Hindi-Networks nach Vokalverschiebungen abzusuchen (was er normalerweise in Heimarbeit erledigte, aber ich hatte verzweifelt auf einen Schauplatzwechsel gedrängt, selbst wenn es bedeutete, die Realität zu verzerren). Die University of Manchester besaß sechs separate Gelände, die über die ganze Stadt verstreut waren, und wir befanden uns auf dem neuesten Campus, wo die Landschaftsarchitekten sich mit künstlicher Vegetation ausgetobt hatten. Selbst das Gras war von einem unmöglich üppigen Grün, so daß die Aufnahmen in den ersten Sekunden – sogar für mich – wie eine schlecht zusammengestückelte Montage aussahen: ein englischer Himmel über einer Parklandschaft aus Brunei.
»Wissen Sie«, sagte Rourke, »ich beneide Sie um Ihren Job. Als Freiwilliger Autist bin ich gezwungen, mich auf einen kleinen Ausschnitt der Veränderung zu konzentrieren. Aber Sie können alles aus der Vogel-Perspektive betrachten.«
»Was? Meinen Sie die Fortschritte in der Biotechnik?«
»Biotechnik, Imaging, künstliche Intelligenz… all das. Dieser große Kampf um die großen Worte.«
»Welche großen Worte?«
Er lächelte geheimnisvoll. »Es gibt ein weniger großes und ein ganz großes. Diese beiden Worte wird man in Zukunft mit unserem Jahrhundert assoziieren. Den Kampf um zwei Worte. Zwei Definitionen.«
»Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wovon Sie sprechen.« Wir kamen durch ein viereckiges Miniaturwäldchen. Es war ein dichter, exotischer Dschungel, phantastisch und mysteriös, als wäre er von einem Surrealisten gemalt worden.
Rourke drehte sich zu mir um. »Was ist das Gönnerhafteste, das Sie Menschen anbieten können, mit denen Sie nicht einer Meinung sind oder die Sie nicht verstehen?«
»Ich weiß es nicht. Was?«
»Wenn Sie ihnen anbieten, sie gesund zu machen. Das ist das erste der großen Worte. Gesundheit.«
»Aha.«
»Die medizinische Technik steht vor einer Supernova-Explosion. Falls es Ihnen noch nicht aufgefallen ist. Und wofür wird alle diese Energie eingesetzt? Für die Erhaltung – oder die Erzeugung – von ›Gesundheit‹. Aber was ist ›Gesundheit‹? Vergessen Sie bitte für einen Moment den offensichtlichen Quatsch, den jeder glaubt. Nachdem das letzte Virus, der letzte Parasit und das letzte Onkogen restlos vernichtet wurden – worin besteht das finale Ziel der ›Gesundheit‹? Werden wir alle endlich die vorbestimmten Rollen in einer ›natürlichen Ordnung‹ im Sinne der Edeniten spielen?« Er hielt inne, um ironisch auf die Orchideen und Lilien zu deuten, die ringsum blühten. »Sollen wir wieder in den einzigen Zustand versetzt werden, für den die Biologie uns optimiert hat: das Leben als Jäger und Sammler? Und sollen wir wieder wie damals mit dreißig oder vierzig Jahren sterben? Ist es das? Oder werden wir jede technisch realisierbare Existenzweise ermöglichen? Wer behauptet, die Grenze zwischen Gesundheit und Krankheit zu definieren, behauptet damit… alles.«
»Sie haben recht«, sagte ich. »Das Wort ist heimtückisch, seine Bedeutung bleibt offen – und wird vermutlich immer strittig bleiben.« Gegen die Gönnerhaftigkeit konnte ich auch nicht argumentieren, denn die Mystische Renaissance versprach immer wieder, die Menschen der Welt ›gesund‹ zu machen, sie von ihrer ›übersinnlichen Lähmung‹ zu heilen und uns alle in ›vollkommen ausgeglichene‹ menschliche Wesen zu verwandeln. Mit anderen Worten: in perfekte Kopien ihrer selbst, alle mit denselben Überzeugungen, denselben Zielen, denselben Neurosen und demselben Aberglauben.
»Und wie lautet das andere große Wort? Das ganz große?«
Er neigte den Kopf und schaute mich verschmitzt an. »Können Sie es wirklich nicht erraten? Gut, dann gebe ich Ihnen einen Hinweis. Was ist die intellektuell unkomplizierteste Methode, mit der man versuchen kann, eine Diskussion für sich zu gewinnen.«
»Sie werden es mir vorsagen müssen. Ich bin nicht sehr gut im Raten.«
»Indem man sagt, daß es dem Opponenten an Menschlichkeit mangelt.«
Ich war verstummt, denn plötzlich schämte ich mich – oder es war mir zumindest peinlich – als ich daran dachte, wie sehr ihn einige Dinge beleidigt haben mußten, die
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