Qual
notwendig gewesen war. Letztlich war es jedoch gleichgültig, ob dieser Schacht unbeabsichtigt durch die Überschneidung unterschiedlicher Konzentrationen chemischer Regulatoren entstanden war – weil die lithophilen Bakterien den Wechsel bemerkt und die entsprechenden Gene eingeschaltet hatten – oder ob man sie gezielter informiert hatte, indem jemand einen Eimer mit Katalysatoren auf den Boden gekippt hatte. Es war in jedem Fall einfacher, als den Fels einen oder zwei Monate lang mit einem Diamantenbohrer zu bearbeiten.
Ich beobachtete, wie der doppelte Lichtreflex der Lampen langsam in der Dunkelheit verschwand und gleichzeitig auf dem Bildschirm die grau-grün gekörnte Felswand vorbeizog. Dort gab es noch deutlichere Hinweise auf Korallenstöcke und sogar mineralisierte Fischskelette, die sich in der Formation des Riffs verfangen hatten. Und wieder wurde mir auf unheimliche Weise die komprimierte Zeitskala der Insel bewußt. Die Vorstellung, daß unterirdische Tiefen zu unvorstellbar fernen Zeitaltern gehörten, war so fest verwurzelt, daß es eine bewußte Anstrengung erforderte, auf Getränkeflaschen oder Autoreifen gefaßt zu bleiben – die zwar aus der Zeit vor Stateless stammten, aber durchaus in den sich bildenden Fels hineingeraten sein konnten.
Die dekorativen Mineralienspuren verblaßten, da sie in dieser Tiefe ohnehin kaum jemand zu Gesicht bekommen würde. Rajendras Atmung beschleunigte sich, und er blickte immer wieder zur Oberfläche hinauf. Einige der Leute, die den Bildschirm beobachteten, riefen nach unten und winkten ihm zu. Ihre Arme waren skeletthafte Silhouetten, die beinahe vom blendend hellen Kreis des Himmels überstrahlt wurden. Er wandte den Blick ab und schaute dann nach unten. Das Gitter der Plattform war zwar nicht geschlossen, aber weder die Lichtkegel seiner Lampen noch das Sonnenlicht drangen wesentlich tiefer vor. Anscheinend wurde er wieder ruhiger. Ich hatte überlegt, ob ich ihn um einen laufenden Kommentar bitten sollte, aber jetzt war ich froh, daß ich es nicht getan hatte, denn es wäre eine unfaire Belastung für ihn gewesen.
Die Schachtwand wurde sichtlich feuchter. Rajendra streckte den Arm aus und zog die Finger durch die kalkige Flüssigkeit. Wasser und Nährsalze durchdrangen jeden Teil der Insel (sogar das Zentrum, obwohl die trockene und harte Oberflächenschicht dort am dicksten war). Es spielte keine Rolle, daß man den Fels hier niemals abbauen würde – und die Tatsache, daß der Schacht eine ›unverheilte‹ Wunde darstellte, bewies, daß diese Zone ausdrücklich gegen ein weiteres Wachstum programmiert worden war. Die lithophilen Organismen blieben unentbehrlich; das Herz des Inselfelsens durfte niemals sterben.
Jetzt erkannte ich winzige Bläschen, die sich in der Flüssigkeit an den Wänden bildeten – und etwas tiefer wurden sie regelrecht zu Schaum. Jenseits der Ränder des Guyots hatte Stateless keinen Bodenkontakt mehr, und ein vierzig Kilometer langer fester Überhang aus Kalkstein wäre sofort weggebrochen, ob er nun durch Biopolymere gestärkt wurde oder nicht. Der Guyot war ein nützlicher Anker und trug einen Teil der Last, doch der größte Bereich der Insel mußte schwimmfähig sein. Stateless bestand zu drei Vierteln aus Luft, und der Felskern war ein feiner mineralisierter Schaum, der ein geringeres spezifisches Gewicht als Wasser hatte.
Die Luft in diesem Schaum stand jedoch unter hohem Druck – erstens durch das Gewicht des Felsens von oben und unter dem Meeresspiegel durch das umgebende Wasser, das sich hineinzudrängen versuchte. Durch Diffusion ging ständig Luft aus dem Fels verloren, und der Wind, der durch diesen Schacht strömte, war das, was ständig aus mehreren hundert Quadratmetern Oberfläche entwich, doch letztlich geschah überall dasselbe, wenn auch nicht in solch dramatischem Ausmaß.
Die Lithophilen verhinderten, daß Stateless wie eine punktierte Lunge in sich zusammenfiel und wie ein getränkter Schwamm versank. Viele natürliche Organismen waren sehr fleißige Gasproduzenten, doch sie neigten dazu, auch Produkte auszuscheiden, die man nicht so gern in größeren Mengen um sich haben wollte – wie zum Beispiel Methan oder Schwefelwasserstoff. Die Lithophilen nahmen Wasser und Kohlendioxid auf (hauptsächlich in gelöster Form), um Kohlenhydrate und Sauerstoff (hauptsächlich ungelöst) zu erzeugen. Und weil sie ›ungesättigte‹ Kohlenhydrate (wie Deoxiribose) herstellten, setzten sie mehr Sauerstoff frei,
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