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Quantum

Quantum

Titel: Quantum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hannu Rajaniemi
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mir teilen oder dich anderswo mit ihr treffen müssen. Und was heißt schon
›verdient‹?« Der Gentleman zögert.
    »Du hast gewusst, dass sie es war«, sagt Isidore.
    Der Gentleman schweigt.
    »Ich glaube, du hast es von Anfang an gewusst. Es ging gar nicht um
sie, es ging um mich. Auf welchem Gebiet wolltest du mich auf die Probe
stellen?«
    »Du kannst dir doch denken, dass es einen Grund gibt, warum ich dich
bisher nicht zu einem der Unseren gemacht habe.«
    »Und der wäre?«
    »Eine Sache«, sagt der Gentleman. »In den alten Zeiten auf der Erde
waren die Personen, die man Zaddikkim nannte, oft Heiler .«
    »Ich begreife nicht, was das für eine Rolle spielt«, sagt Isidore.
    »Das ist mir schon klar.«
    »Wie? Sollte ich sie laufen lassen? Gnade zeigen?« Isidore beißt
sich auf die Unterlippe. »So klärt man keine Fälle auf.«
    »Nein«, sagt der Gentleman.
    In diesem einen Wort verbirgt sich eine Form, Isidore kann sie
spüren: Sie ist nicht fest, eher amorph, aber sie ist zweifellos vorhanden. In
seinem Zorn greift er danach und packt sie.
    »Ich glaube, du lügst«, sagt Isidore. »Ich kann also kein Zaddik
sein, weil ich kein Heiler bin. Die Stille ist auch kein Heiler. Du kannst nur
niemandem vertrauen. Du willst einen Detektiv, der noch nicht wiedererweckt
wurde. Du willst einen Detektiv, der fähig ist, Geheimnisse zu bewahren. Du willst
einen Detektiv, der die Kryptarchen verfolgen kann.«
    »Dieses Wort«, sagt der Gentleman, »existiert nicht.« Er setzt
seinen Hut auf und erhebt sich. »Ich danke dir für deine Hilfe.« Er streicht
Isidore mit seinem Samthandschuh über die Wange. Die Berührung ist merkwürdig
leicht und zart.
    »Und übrigens«, sagt der Gentleman, »werden ihr die
Schokoladenschuhe nicht gefallen. Ich habe dir stattdessen etwas mit Trüffeln
besorgt.«
    Dann ist er verschwunden. Im Gras liegt eine Schachtel Pralinen mit
einer hübschen roten Schleife.

0   Intermezzo:
    Der König
    Der König des Mars kann alles sehen, aber es gibt Stellen,
die er lieber meidet. Der Raumhafen gehört gewöhnlich dazu. Aber heute hat er
ihn persönlich aufgesucht, um einen alten Freund zu töten.
    Die Ankunftshalle ist im Stil der alten Monarchie gehalten, ein
weiter, pompöser Raum mit einer hohen Kuppel. Die bunten Scharen, die von
anderen Welten hierherkommen, vermögen sie kaum zu füllen, die Besucher bewegen
sich unsicher in der ungewohnten Mars-Schwerkraft und tun sich schwer, sich an
das Gefühl des Gevulot auf der Haut zu gewöhnen.
    Für niemanden sichtbar oder hörbar, wandelt der König durch die
Menge der Aliens: Realm-Avatare, schmächtige Gürtel-Bewohner in
quallenähnlichen Exoskeletten, hektisch umherflitzende Schnelle,
Zoku-Angehörige in Standardkörpern vom Saturn. Vor einer Statue des Herzogs von
Ophir bleibt er stehen und schaut, vorbei an dem von Sprüngen durchzogenen
Gesicht, das von den Revolutionären geschändet wurde, zur Kuppel empor. Darüber
sieht er die Bohnenstange, sie sticht – eine unglaublich scharfe Linie! – in
den rostroten Himmel und erzeugt Höhenangst, wenn man versucht, ihr mit dem
Blick zu folgen. Übelkeit befällt ihn: Die Zwangsneurose, die ihm vor
Jahrhunderten von derben Händen eingepflanzt wurde, ist immer noch da.
    Du gehörst auf den Mars, sagt sie. Du wirst ihn niemals verlassen.
    Der König ballt die Fäuste und zerrt an der Kette in seinem Geist.
Er sieht so lange hin, wie er es erträgt, dann schließt er die Augen und macht
sich auf die Suche nach dem zweiten Unsichtbaren.
    Er schickt seinen Geist durch die Menge, schaut durch fremde Augen
und sucht in frischen Erinnerungen nach Spuren von Manipulation wie nach
verwehten Blättern in einem Wald. Das hätte er schon früher tun sollen. Seine
persönliche Anwesenheit hier hat etwas Reinigendes. Für den König sind
Erinnerungen und Handlungen im Lauf der Jahre fast eins geworden, und er
empfindet den scharfen Geschmack der Realität als beglückend.
    Die Erinnerungsfalle ist ganz unscheinbar, gut verborgen im frischen
Exospeicher eines fleischgewordenen Realm-Avatars, durch dessen Augen der König
schaut. Sie ist rekursiv: selbst nur eine Erinnerung an eine Erinnerung, und
beinahe reißt sie den König in einen unendlichen Tunnel von déjà
vu -Eindrücken, zieht ihn nach innen wie die Höhenangst beim Betrachten
der Bohnenstange.
    Aber das Erinnerungsspiel ist das ureigene Spiel des Königs. Mit
einem einzigen Willensakt verankert er sich wieder in der Gegenwart, isoliert
die

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