Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Quantum

Quantum

Titel: Quantum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hannu Rajaniemi
Vom Netzwerk:
gezogen haben, während sie auf Fahrgäste warten – und
betrachtet sie fasziniert.
    Ich pirsche mich im Schutz der Menge langsam an. Er hebt sich von
allem anderen um mich herum ab, erscheint mir schärfer. Vielleicht ist es der
Schmutz auf seinem Gesicht oder der zerschlissene braune Kittel, vielleicht
sind es auch die dunkelbraunen Augen, die so anders sind als die der Marsianer.
Nur noch wenige Meter …
    Aber er spielt mit mir. Als ich mich auf ihn stürzen will, lacht er
nur leise und schlüpft unter die langbeinigen Kutschkästen. Ich bin zu groß, um
ihm dorthin zu folgen, und muss mich durch die Menge drängen, um an den
Fahrzeugen und ihren wartenden Fahrgästen vorbeizukommen.
    Der Junge bin ich. Ich erinnere mich, dass ich im Traum er war. Die
Erinnerungen sind zwischen den Jahrhunderten flachgepresst wie Schmetterlinge
und ebenso empfindlich, und als ich sie anfasse, zerfallen sie. Eine Wüste und
ein Soldat. Und eine Frau in einem Zelt. Vielleicht ist der Junge in meinem
Kopf. Vielleicht ist er ein Konstrukt, das mein altes Ich zurückgelassen hat.
So oder so, ich muss es wissen. Ich rufe seinen Namen, nicht Jean le Flambeur,
sondern den älteren.
    Ein Teil von mir zählt die Sekunden, bis Mieli die kleine Ablenkung
durchschauen und mich abschalten oder in eine neue Hölle schicken wird. Mir
bleibt wohl nur sehr wenig Zeit, um in Erfahrung zu bringen, was mir der Junge
zu sagen hat, ohne dass mir meine Aufpasserin über die Schulter schaut. Ich
sehe gerade noch, wie er in einer Gasse verschwindet, die ins Labyrinth führt.
Fluchend renne ich hinterher.
    Im Labyrinth stoßen die größeren Plattformen und Bauteile der Stadt
aneinander, und in den Abständen bleibt Platz für Hunderte von kleineren
Puzzlestücken, die in ständiger Bewegung sind. Gelegentlich bilden sie Berge
und gewundene Gassen, die langsam die Richtung ändern können, während man ihnen
noch folgt, aber so langsam, dass man es nur mitbekommt, wenn man den Horizont
beobachtet. Es gibt keine Stadtpläne für dieses Viertel, nur Leuchtkäfer als
Führer für mutige Touristen.
    An einem steilen Abhang mit holprigem Kopfsteinpflaster verlängere
ich meine Schritte. Laufen ist auf dem Mars eine besondere Kunst, meine Stärke
war es noch nie, und als die Straße unter mir einen Satz macht, komme ich nach
einem besonders hohen Sprung schlecht auf und schlittere mehrere Meter weit auf
dem Hinterteil dahin.
    »Haben Sie sich wehgetan?« Eine Frau mit einer Zeitung in den Händen
beugt sich über das Geländer ihres Balkons.
    »Alles in Ordnung«, stöhne ich. Ich bin einigermaßen sicher, dass
der Sobornost-Körper, in den mich Mieli gesteckt hat, nicht so leicht
kaputtzukriegen ist. Aber ein geprelltes Steißbein ist auch dann schmerzhaft,
wenn der Schmerz nur simuliert ist. »Haben Sie einen kleinen Jungen
vorbeilaufen sehen?«
    »Meinen Sie diesen kleinen Jungen?«
    Der Bengel steht keine hundert Meter entfernt und schüttet sich aus
vor Lachen. Ich rapple mich auf und renne weiter.
    Es geht tiefer und tiefer ins Labyrinth hinein, der Junge immer vorneweg,
immer um eine Ecke biegend, nie zu weit voraus, über Kopfsteinpflaster, Marmor,
Nanogras und Holz.
    Wir überqueren kleine chinesische Plätze mit lang gestreckten
buddhistischen Tempeln, an deren Fassaden rote und goldene Drachen prangen,
hetzen durch provisorische Markthallen, wo es nach Synthfisch riecht, und
überholen eine Gruppe schwarz gewandeter Wiedererwecker mit neugeborenen
Schweigern im Schlepptau.
    Etliche Straßenzüge geht es entlang, die von Gevulot verhüllt sind –
vielleicht Rotlichtviertel. Und über leere Fahrbahnen, an denen gelb gepanzerte
Bau-Schweiger – größer als Elefanten – mit bedächtigen Bewegungen neue
pastellfarbene Häuser ausdrucken. Hier verliere ich den Jungen im lauten
Brummen und dem eigentümlichen Tanggeruch der Riesenmaschinen beinahe aus den
Augen, doch dann winkt er mir vom Rücken eines Kolosses aus zu und springt
gleich wieder herunter.
    Eine Weile folgt uns eine Gruppe von Parkroller-Läufern, die unser
Wettrennen für ein neues Spiel halten. Die marsgeborenen Mädchen und Jungen
tragen Gewänder im Stil der Monarchie, Korsagen, Regenschirmröcke und gepuderte
Perücken, alles mit Nanomaterie durchsetzt, sodass es nicht im Weg ist und auch
nachgibt, wenn sich die Kids von den Wänden abstoßen und von Dach zu Dach ihre
Saltos schlagen. Die übergroßen Räder haften an jeder Oberfläche. Die Läufer
feuern mich lauthals an, und für

Weitere Kostenlose Bücher