Quantum
sehe im Spiegel nur noch mein
eigenes neues Bild.
Ich lehne mich zurück und mache mich daran, ein neues Ich zu
erschaffen, ein Ich für ein erstes Rendezvous.
9 Der Detektiv und der Brief
Später am Abend folgt Isidore der Mit-Erinnerung zum
Schildkrötenpark. Sie führt ihn auf einen schmalen Sandpfad durch ein Wäldchen
aus Kiefern und Ulmen. Hinter den Bäumen findet er das Schloss.
Es ist mit Ausnahme des Olympus-Palastes das größte restaurierte
Gebäude aus der Zeit der Monarchie, das Isidore jemals gesehen hat; erstaunlich
ist, dass es durch Gevulot den Blicken der Öffentlichkeit entzogen wird. Die
letzten Sonnenstrahlen des Tages streifen zwei Türme, die sich, nach rechts und
links gekrümmt wie orientalische Dolche, zum Himmel recken. Das Schloss wirft
lange blaue Schatten über ein Blumenbeet von geometrischer Präzision. Die
Blumen bilden Dreiecke und Polygone in vielen Farben, als hätte der Gärtner
euklidische Theoreme zu beweisen versucht. Isidore erkennt erst auf den zweiten
Blick, dass sie in Form einer darischen Sonnenuhr gepflanzt sind und der höhere
Turm als Zeiger dient.
Um das Anwesen zieht sich ein hoher Eisenzaun. Hinter dem Tor steht
ein Schweiger und wartet. Es ist eine ungewöhnliche Kreatur: von humanoider
Gestalt, etwa so groß wie ein Mann, mit einer goldenen Maske und goldenen
Handschuhen, unter denen sich seine Ecken und Kanten verbergen, und in einer
blauen, silberbestickten Livree. Isidore fühlt sich an die edelsteinbesetzten
Puppen in der Monarchie-Simulation erinnert. Natürlich grüßt er nicht, aber er
hält es doch für ein Gebot des Anstands, etwas zu sagen.
»Ich bin Isidore Beautrelet, verkündet er daher. »Ich werde
erwartet.«
Der Schweiger öffnet ihm stumm die Tür und geht voran auf das Schloss
zu. Der Weg führt durch Beete mit Rosen, Lilien und exotischeren Blumen, die
Isidore erst blinkern muss, bevor er sie benennen kann. Der Duft ist
berauschend.
Die Abendsonne zaubert einen goldenen Teich auf eine Lichtung, auf
der ein kleiner pagodenähnlicher Pavillon steht. Ein junger Mann mit hellem
Haar – kaum mehr als ein Junge, schätzungsweise sechs bis acht Marsjahre alt –
sitzt darin und liest in einem Buch. Neben ihm steht eine leere Teetasse. Er
trägt eine schlichte Revolutionsuniform, die ihm viel zu weit ist. Die schmalen
Augenbrauen in dem fein gezeichneten, rundlichen Kindergesicht sind
konzentriert zusammengezogen. Der Schweiger bleibt stehen und läutet ein
Silberglöckchen. Der Mann blickt langsam auf und erhebt sich übertrieben
bedächtig.
»Mein lieber Junge«, sagt er und reicht Isidore die Hand. Seine
Fingerknochen fühlen sich an wie Porzellan. Er ist größer als der Detektiv,
aber geradezu erschreckend mager, die lang gestreckte Körpermorphologie der
Marsianer ist bei ihm ins Extrem getrieben. »Ich freue mich sehr, dass Sie
kommen konnten. Darf ich Ihnen eine Erfrischung anbieten?«
»Nein, danke.«
»Setzen Sie sich doch. Wie gefällt Ihnen mein Garten?«
»Ich bin beeindruckt.«
»Ja, mein Gärtner ist ein Genie. Ein sehr bescheidener Mann, aber
genial. Allerdings trifft das natürlich auch auf andere Individuen mit seltenen
Begabungen zu, zum Beispiel auf Sie.«
Isidore sieht ihn schweigend an, während er versucht, eine
Gevulot-Störung abzuschütteln. Hier fehlt die
Privatsphäre nicht wie im Staubviertel, aber sie ist so instabil, als könnte
sie jeden Moment reißen.
Der junge Mann lächelt. »Sind Sie so genial, dass Sie wissen, wer
ich bin?«
»Sie sind Christian Unruh«, sagt Isidore. »Der Millenar.«
Es war nicht schwer gewesen, das herauszufinden, hatte ihn aber doch
die gesamte zweite Hälfte des Nachmittags beschäftigt. Er musste öffentliche
Exospeicher durchsuchen und sie mit der Mit-Erinnerung vergleichen, die ihm die
Frau in Weiß gegeben hatte. Unruh – wenn er wirklich so heißt – legt selbst für
einen Oubliette-Bewohner enorm viel Wert auf seine Privatsphäre: von seiner
Jugend einmal abgesehen, lässt sich nur unter großen Schwierigkeiten etwas über
seine Vergangenheit in Erfahrung bringen. Sein Name taucht in den Zeitungen
hauptsächlich in Zusammenhang mit gesellschaftlichen Ereignissen und
Geschäftsabschlüssen auf. Und es liegt auf der Hand, dass er mehr ZEIT hat als Gott selbst.
»Sie haben sich ein großes persönliches ZEIT -Vermögen
mit Gevulot-Geschäften erworben, die die STIMME erst vor einigen Jahren möglich gemacht hat. Und irgendetwas beunruhigt Sie,
das ist unübersehbar.
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