Quantum
Fingern zwinkert ihm ein heller Jupiter zu. »Das ewige Einerlei
hier lässt einen doch langsam verblöden, findest du nicht? Und man hat nicht
mehr das Gefühl, in der Realität zu sein.«
»Wäre das nicht eigentlich dein Beruf? In die Irrealität zu gehen?«
In Eulenjunges Stimme schwingt eine Spur von Verärgerung mit. Er ist
Ingenieurstudent, und wenn die sexuelle Anziehung nicht wäre, hätte sich Marcel
niemals auf ihn eingelassen; aber gelegentlich sagt er Dinge, bei denen Marcels
Herz einen Satz macht. Im Lauf ihrer zweijährigen Partnerschaft hat Marcel oft
daran gedacht, ihn zu verlassen. Aber Augenblicke wie dieser halten ihn immer
wieder zurück.
»Nein«, sagt Marcel. »Mein Beruf ist es, irreale Dinge real oder
reale Dinge noch realer zu machen. Da oben wäre das einfacher. Die Zokus haben
Maschinen, die Gedanken in Dinge verwandeln. Der Sobornost sagt, er will jeden
Gedanken konservieren, der jemals gedacht wurde. Hier dagegen …«
Unter seinen Fingern explodiert der Jupiter. Für einen Moment ist
seine Hand eine rote Silhouette vor grellem Weiß. Er zwinkert. Ein Zittern
durchläuft den Gleiter, seine Tragflächen verformen sich wie Papier, wenn es
sich im Feuer einrollt. Er spürt Eulenjunges kalte Hand in der seinen. Dann
schreit sein Liebhaber – Worte, die keinen Sinn ergeben, kehlkopfsprengende
Glossolalien. Ringsum brennt der Himmel. Und dann stürzen sie ab.
Das Wort Spike hört Marcel erst sehr
viel später zum ersten Mal. Zuvor haben die Schweiger ihre Leichen aus der Wüste
geborgen, und die Wiedererwecker haben sie wieder zusammengesetzt.
Die Städte haben gelitten. Sogar am Exospeicher sind Schäden
entstanden. Am Himmel steht es noch schlimmer: Der Jupiter ist verschwunden,
aufgefressen von einer gravitationsbedingten oder technischen Singularität,
vielleicht auch beides, niemand weiß es. Der Sobornost behauptet, eine
kosmische Bedrohung eindämmen zu können, und bietet allen Bürgern der Oubliette
ein Upload-Asyl an. Draußen in Supra City ziehen daraufhin die letzten Zokus
ab. Es ist von Krieg die Rede.
Marcel kümmert das alles wenig.
»Das ist ein unerwartetes Vergnügen«, sagt Paul Sernine. Er
sitzt in Marcels Studio. Vielleicht bildet Marcel es sich nur ein, aber das
Gevulot seines Rivalen verrät eine Spur von stillem Neid beim Anblick der
Claytronics-Modelle, der Skizzen und der Fundstücke. »Ich hatte wirklich nicht
erwartet, nach so langer Abwesenheit zuallererst von dir zu einem
Freundschaftsbesuch aufgefordert zu werden. Wie geht’s denn so?«
»Komm mit«, sagt Marcel. »Und sieh selbst.«
Eulenjunge hat den schönsten Raum in Marcels Haus an der Kante. Die
Stadt ist von hier aus nicht zu sehen. Meistens sitzt Eulenjunge in seinem
Medschaum-Kokon schweigend am Fenster und starrt ins Leere. Aber hin und wieder
stößt er lange Ketten von rauen metallischen Klicklauten aus, die ihm den
Kehlkopf zu sprengen drohen.
»Die Wiedererwecker verstehen das nicht«, sagt Marcel. »In seinem
Gehirn gibt es einen stabilen kohärenten Zustand wie in den alten
Quantentheorien des Bewusstseins: ein Kondensat in den Mikrotubuli seiner
Neuronen, das mit seinem Exospeicher verschränkt ist. Wenn es zusammenbricht,
kann er wieder gesund werden, aber sicher ist es nicht.«
»Das tut mir wirklich leid«, sagt Sernine. Das Mitgefühl in seiner
Stimme klingt echt. Marcel ist überrascht. »Ich wünschte, ich könnte etwas
tun.«
»Das kannst du«, sagt Marcel.
»Ich verstehe nicht ganz …«
»Ich gebe auf«, erklärt Marcel. »In der Vergangenheit haben dir
meine Ideen offensichtlich so gut gefallen, dass du sie kopiert hast. Deshalb
werde ich sie dir verkaufen.« Er deutet auf das Studio. »Alle. Ich weiß, du
kannst sie dir leisten.«
Sernine blinzelt. »Wieso?«
»Weil es sich nicht lohnt.« Marcel seufzt. »Da draußen tummeln sich
Riesen. Wir haben keinerlei Bedeutung. Jeder kann uns zertreten, ohne es auch
nur zu merken. Wozu da noch hübsche Bilder entwerfen? Es ist ohnehin alles
schon einmal da gewesen. Wir sind Ameisen. Wichtig ist nur, dass wir
füreinander sorgen.«
Marcel fasst nach Eulenjunges Hand. »Etwas kann ich für ihn tun«, sagt
er. »Ich bin für ihn verantwortlich. Ich kann warten, bis es ihm besser geht.
Aber dafür brauche ich ZEIT .«
Sernine sieht ihn lange an. »Du irrst dich«, sagt er. »Wir sind
ebenso groß wie deine Riesen. Und das muss ihnen einmal gezeigt werden.«
»Indem man Spielzeughäuser baut? Wenn du willst.« Marcel
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