Quarantäne
ziehen soll. So bleibt kaum eine Fläche, auf der man trockenen Fußes stehen kann, unberücksichtigt. Die Flughafenpisten habe ich gestrichen, aber einige Versionen von mir werden sich wohl auf Rugbyfeldern und in Kläranlagen wiederfinden… werden sich damit abzufinden haben, daß sie wohl den nächsten Tag nicht erleben werden.
Ich starre auf die Karte in meinem Kopf und denke: Morgen früh wird diese Stadt von unsichtbaren Leichen übersät sein, die Leichen meiner nicht realisierten Ichs. Und dem einzigen Erben meiner persönlichen Vergangenheit, der wie durch ein Wunder einen weiteren Kollaps überlebt hat, werden diese Toten noch unwirklicher erscheinen denn je.
Für mich sind sie real, natürlich. Denn sie alle existieren in meiner Zukunft.
Kurz vor Mitternacht blitzt die Nachricht vor meinen Augen auf:
Utility:
Meldung liegt vor.
Absender: Initiative (Neue Welt; achtzigtausend Dollar)
Inhalt: Installation beendet.
Ich will das neue Modul aufrufen, aber kein Window, keine virtuelle Tastatur erscheint vor meinen Augen – was nicht sonderlich überraschend ist. Dieses Modul war ja nicht für mich gedacht. Also sitze ich auf dem Bett und aktiviere Hypernova, um jenes Wesen ins Leben zu rufen, für das Initiative gebaut wurde.
Wie hat die Erscheinung es genannt? Unverantwortlich? Ein kindliches Gemüt? Und wenn es aus Milliarden sich endlos aufspaltender Versionen von mir besteht, was bin ich dann für es? Ein mikroskopisch kleines Nichts – unbedeutend wie es ein einzelnes Blutkörperchen, eine einzelne Nervenzelle für meinen Körper ist? Aber schließlich muß auch ich die Bedürfnisse aller meiner Blutkörperchen und Nervenzellen zusammen beachten. Ich habe ihm schon mehr als hundertmal meine Wünsche aufgezwungen, vielleicht ist ein weiteres Wunder mehr, als man erwarten darf – besonders, weil ich mir so sicher bin, wie stark und eindeutig mein Wille in diesem Fall ist. Was für eine Version von mir sollte tatsächlich wünschen, daß Luis Plan gelingt?
Ich warte zehn Minuten, dann verlasse ich die Wohnung.
Ich hatte mir ausgemalt, wie ich ungesehen durch düstere Straßen schleiche, aber das war nur ein Phantasiebild. Um Mitternacht sind alle Touristen hier gleichzeitig auf der Straße und mit ihnen jedermann, der etwas zu verkaufen hat. Ich arbeite mich durchs Gewühl und überlege: Wenn man mich nicht schon kollabiert hat, dann tue ich jetzt möglicherweise Luis Arbeit – indem ich den Kollaps jedes Menschen, der mich sieht, verhindere, und wiederum den Kollaps jedes Menschen, der diesen beobachtet… und wenn das nun für alle meine Versionen gilt, die sich über die Stadt ausbreiten, wie lange wird es dann dauern, bis der ganze Planet verschmiert ist? Bei Laura, hieß es, würde es einen Tag oder zwei dauern – aber gilt für mich dasselbe? Sie könnte über Techniken verfügen, die die Auswirkungen in Grenzen halten; vielleicht läßt sich lernen, wie man die vielen Versionen auf engerem Raum konzentriert. Aber ich bin sicher das Gegenteil von räumlich konzentriert, ich verschwimme über die ganze Stadt.
Vor dem Eingang zur U-Bahn steht eine Straßenmusikantin, die mit altmodischen Sensorhandschuhen auf einer virtuellen Violine spielt, noch dazu sehr gut… wenn sie die Töne wirklich selber produziert und nicht nur so tut. Auf der Rolltreppe nach unten nehme ich das Würfelspiel aus der Tasche; ich werfe sechs Dekaeder und gebe die Ergebnisse in das von Neumann- Programm.
Ich versuche mit einem Würfelspiel einen Wahnsinnigen einzufangen? Warum benutze ich nicht Luis Horoskop? Warum nicht gleich das verdammte I Ging?
Aber bringe das letzte Aufbegehren meines gesunden Menschenverstands zum Schweigen und kaufe eine Fahrkarte für mein zufällig ausgewähltes Ziel.
Das Ziel erweist sich als trister Häuserblock in einem Wohngebiet, das wie ein ausgestreckter Finger zwischen die Reihen der Lagerhäuser nördlich vom Hafen hineinragt. Ich nähere mich, noch immer guter Hoffnung und mit der gebotenen Vorsicht, obwohl ich meinen ganzen Mut zusammennehmen muß – hin- und hergerissen zwischen der Erkenntnis, wie gering die Chance ist, daß ausgerechnet ich derjenige aus einem Millionenheer sein sollte, der Lui findet, und der so oft bestätigten, überzeugenden Erfahrung, daß immer ich es war, der den Kollaps gegen alle Wahrscheinlichkeit überlebte.
Die Eingangstür ist verschlossen, es gibt eine Videokamera zur Kontrolle, aber die Türflügel gleiten auseinander,
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