Quarantäne
Überträgerorganismus. Deshalb können manipulierte Überträger höchstens eine Stunde überleben – was zum Infizieren einzelner Personen ausreicht –, aber eine Epidemie kann daraus kaum entstehen. Die Meinung der Fachleute lautete übereinstimmend, daß jeder Versuch einer mehr als nur oberflächlichen Manipulation außer dem veränderten Überträger auch eine völlig neue Nanomaschinerie erfordert – und somit einen Forschungsaufwand, der kaum geringer ist als jener bei der Entwicklung dieser ganzen Technik. Kein Terrorist, kein Sektierer konnte sich das leisten – und vielleicht nicht einmal eine Regierung hätte so etwas arrangieren können, ohne daß etwas durchgesickert wäre.
Der Gedanke, daß irgendein Hinterhofbastler einen neuen Überträger entwickelt hätte, der sowohl mit der üblichen Nanomaschinerie verträglich als auch infektiös genug, um eine Gefahr darzustellen, ist nicht weniger unsinnig, als einen Code auf der Basis einer Megazahl auf den ersten Versuch zu knacken.
Der Menschenstrom um mich herum hat etwas nachgelassen, es wird rasch dunkel. Das Leben geht weiter wie gewohnt. Am Ende bleibt alles beim alten. Seit zwei Uhr hat Lui das Modul; er könnte die Einzeller schon unter die Leute gebracht haben. Wie lange wird es dauern, bis sie sich überall ausgebreitet haben? Ich bin überzeugt, daß er das Modul gegenüber Po-kwais Version ein wenig verändert hat: Der Kollapsinhibitor wird sich nicht auf Wunsch aktivieren lassen, gewiß nicht; er hat dafür gesorgt, daß die unfreiwilligen Modulbesitzer ebenso unfreiwillig verschmieren.
Wenn erst tausend oder hunderttausend Leute verschmiert sind – wie lange wird es da dauern, bis ihre verschmierten Ichs gelernt haben, die ganze Stadt am Kollabieren zu hindern? Und wenn erst zwölf Millionen Menschen verschmiert sind…
Ich blicke hinauf zum Himmel und kann über dem letzten Glühen des Sonnenuntergangs einen schwachen Lichtpunkt ausmachen. Zehn bange Sekunden starre ich darauf, bevor ich merke, daß es Venus ist.
Die Frau hinter dem Ladentisch von >Neue Welt< runzelt die Stirn und sagt: »Sie sind etwas früh, kommen Sie doch in zwei Stunden wieder.«
»Sie müssen sich beeilen, ich zahle Ihnen…«
Sie lacht. »Sie können mir geben, soviel Sie wollen, es wird nichts nützen. Die Maschine ist programmiert, sie arbeitet an Ihrem Modul. Da gibt es nichts, was noch zu beschleunigen wäre.«
Nichts? Was, wenn ich sie dafür bezahle, mich mit dem Synthesegerät allein zu lassen, dann verschmiere und nicht eher wieder kollabiere, bis das Modul fix und fertig in meinem Kopf implantiert ist? Dann müßte ich nur den Eigenzustand auszuwählen, der die ganze Prozedur in einer >unmöglich< kurzen Zeit hat stattfinden lassen. Ich müßte nicht einmal befürchten, daß die übergroße Eile mir ein defektes Modul bescheren würde – denn ein defektes Modul könnte nicht die wundersame Beschleunigung bewirken, das Ganze würde einfach nicht stattgefunden haben.
Oder vielleicht doch? Was, wenn ich irgendeinen unscheinbaren Fehler ausgelöst hätte, der sich nicht sofort zeigt? Ich starre auf das lautlos arbeitende Synthesegerät, das auf den ersten Blick befremdlich einem luxuriösen Getränkeautomaten ähnelt; der Gedanke, so eine Maschine vom Pfad ihrer gewohnten Wahrscheinlichkeiten abzubringen, schreckt mich ab. Ihre Arbeit spielt sich ohnehin auf der Ebene von Molekülen ab, die den Gesetzen der mikrophysikalischen Welt unterworfen sind, daran möchte ich nicht herumjonglieren. Initiative ist mein einziger Trumpf in diesem Spiel; wenn ich es in meiner Ungeduld verderbe, habe ich keine Chance, Lui noch rechtzeitig zu finden.
Ich sage: »Ich warte draußen. Rufen Sie mich bitte, wenn es soweit…«
Sie nickt, sie findet das komisch. »Sie kommen mir vor wie ein werdender Vater vor der Entbindungsstation.«
Ich sollte E3 aktivieren, damit die Zeit ohne Langeweile und Ungeduld vorübergehen kann… aber etwas in mir hält mich davon ab. Jetzt mich dem Modul zu überlassen, das wäre unverantwortlich, eine Flucht vor der Wirklichkeit, einfach unnatürlich…
Ich lasse mir diese Formulierungen, die mir so fremd sind, recht gleichgültig durch den Kopf gehen. Kein Grund zur Aufregung. Ich bin das Loyalitätsmodul losgeworden, indem ich auf eine unvorhersehbare Weise kollabiert bin – kann ich da erwarten, daß ich in jeder anderen Hinsicht noch unverändert bin? Vielleicht war eine wachsende Abneigung gegen Neuromodule Voraussetzung
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