Quarantäne
was hatte er damit zu tun. »Es wurde schon früher gebracht, vor dem Chip. Gestern nachmittag.«
Ich ziehe meinen ASR-Ausweis aus der Tasche. Er kneift die Augen zusammen, als er das Photo betrachtet. »Ja, einer aus dem Süden. Er könnte es gewesen sein.« Er sieht wieder mich an, die hellhäutige Version desselben Gesichts, ohne daß er das geringste zu merken scheint.
Ich arbeite mich durchs Menschengewühl, ohne überhaupt darauf zu achten, wohin ich gehe. Aus diesen Entamoeba mußte beim Verschmieren jede erdenkliche Variante entstanden sein, so exotisch, so unwahrscheinlich sie auch sein mochte – und so schwierig sie mit normalen Mitteln auch zu erzeugen war. In dem Kästchen mußte genug Elektronik und Biosensorik gewesen sein, um die Varianten auf die von Lui gewünschten unmöglichen Eigenschaften zu testen – und die blaue Leuchtdiode zeigte an, wenn das gewünschte Produkt entstanden war. Und ich Idiot, ich schluckte die Lüge mit dem codebrechenden Supercomputer und tat mein Bestes, den richtigen Eigenzustand auszuwählen. Und was waren das für Eigenschaften? Und wozu das Ganze? Was für eine Art Geschäft konnte dahinterstecken?
Aber warum glaube ich denn, daß in Luis Vorstellung die wahre INITIATIVE etwas mit Geld zu tun hätte? Weil er mir eine halbe Million bezahlt hat? Weil er beschämt >eingestand<, daß das schwarze Kästchen eine Dechiffriermaschine sei? Mag sein, daß es das tatsächlich auch war – unter anderem. Von irgendwoher mußte das Geld ja kommen. Aber wenn dieses Geld nur einen ganz bestimmten Zweck erfüllen sollte… welcher Zweck konnte das sein? Wenn er sich sein Loyalitätsmodul nicht in dem Sinne zurechtgebogen hatte, daß es die schiere Habgier rechtfertigte… was hat er dann ausgeheckt? Welche Mission, welchen religiösen Wahn hat er um diesen >Fremdkörper< in seinem Hirn konstruiert?
Wenn er die ganze Zeit schon wußte, wer oder was Laura tatsächlich ist, warum die Barriere errichtet wurde, welche Gefahr das Verschmieren bedeuten konnte…
Unvermittelt bleibe ich stehen, mitten auf der Straße, daß ich in dem Menschenstrom fast umgestoßen werde. Ich kann mir doch ganz gut vorstellen, wie ich reagiert hätte, wenn ich die Tatsachen in einer anderen Reihenfolge erfahren hätte – wenn ich eine Idee der wahren INITIATIVE hätte entwickeln müssen, als ich die ganze Wahrheit über Laura schon wußte.
Lauras >Erzeuger< starb – kollabierte –, als er sie schuf; ein Gott, der sich opferte, um Mensch zu werden. Und dieser Mensch zeigte uns, wie man durch Verschmieren zu Gott werden konnte. Wir alle konnten nun zu Göttern werden und jenen unzugänglichen Teil des Raums betreten, der diesen überlegenen Wesen vorbehalten war.
Ich weiß kaum etwas über Lui und seine Herkunft; wenn er in Neu-Hongkong aufgewachsen ist, dann könnte er Taoist, Buddhist, Christ sein oder auch ein Atheist wie ich selber. Aber vielleicht kommt es überhaupt nicht darauf an, was man geglaubt hat, bevor man von Lauras Geschichte erfährt. Eine solche Offenbarung – in Verbindung mit den unumstößlichen Axiomen des Loyalitätsmoduls, daß die Arbeit der INITIATIVE das Wichtigste auf der Welt ist – würde auf jedes Gehirn gleichermaßen gefährliche Auswirkungen haben.
Und es wäre für jeden, den es beträfe, ganz offensichtlich, worin die Arbeit der INITIATIVE bestand.
Verwirrt sehe ich mich um. Die Dämmerung ist über die Stadt hereingebrochen. Die Leute zwängen sich an mir vorbei, müde und angespannt, ohne einen Blick für andere Sorgen als die eigenen. Am liebsten würde ich sie an den Schultern packen und aus ihrer gefährlichen Gleichgültigkeit rütteln.
Wenn mein Verdacht stimmt, dann gibt es praktisch nichts, was Lui mit den Überträgern nicht gemacht haben könnte. Vielleicht sind sie jetzt äußerst langlebig, hochinfektiös, vermehren sich schnell und lassen sich durch die Luft verstäuben… alles das, was man bisher mit peinlicher Sorgfalt vermieden hat. Er konnte aus ihnen das perfekte Vehikel für das gemacht haben, was er für Lauras Geschenk für die Menschheit hielt.
Wen sollte ich warnen?
Wer würde mir glauben? Keiner, der noch alle Tassen im Schrank hat. Wildgewordene Neuromodule, die sich wie eine Seuche ausbreiten, gehörten bisher zu den Phantastereien der ewig Gestrigen. Die Nanomaschinerie, die die Module aufbaut, ist ihrerseits hochempfindlich und nichtinfektiös – und ihre Arbeit ist eng verknüpft mit der speziell gezüchteten Biochemie des
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