Quarantäne
unter mir, ein Kopf zeigt sich. Ich brülle ihn an, schnell ist er wieder verschwunden. Ich lasse den Laserstrahl in immer weiteren Kreisen um die Scherben tanzen und tröste mich dabei: Es ist fast windstill, und Diffusion dauert ihre Zeit. Ich kann diese Organismen ausnahmslos vernichten, das ist kein Ding der Unmöglichkeit. Verglichen etwa mit dem Problem, Lui in einer Stadt mit zwölf Millionen Einwohnern zu finden…
Dann dämmert mir langsam die Wahrheit: Es macht keinen Unterschied, ob ich alle Einzeller vernichtet habe oder nicht. Vielleicht bin ich eine der unwahrscheinlichen Versionen – aus der Unzahl jener, die seit dem Aufschlagen des Glaskolbens entstanden sind –, die die Kultur restlos vernichtet hat. Darauf kommt es nicht an – keiner von uns, der auf diese Weise versagt hat, wird überleben. Wenn der ausgewählte Zustand Wirklichkeit geworden ist, dann wird Lui den Glaskolben nicht angerührt haben.
Ich wende mich vom Fenster ab und sehe ihn an. »Sie und ich, wir sind Geschichte.« Ich lache. »Jetzt wissen Sie also, in was für eine Lage Sie mich mit Ihren dämlichen Vorhängeschlössern gebracht haben.«
Ich schließe die Augen, versuche, meine Angst im Zaum zu halten. Eine Version wird überleben – eine, die erfolgreich war, wo ich so kläglich versagt habe. Kann ich mir mehr erhoffen als das? Nur zu gern wäre ich diese Version gewesen. Aber es ist zu spät.
Zu Lui sage ich: »Wäre es Mord gewesen, wenn ich Sie getötet hätte? Da Sie jetzt ohnehin so gut wie tot sind?«
Lui antwortet nicht. Ich öffne die Augen, stecke die Pistole ins Holster. Ich sehe ihn an, der noch immer schweigt. Er sieht nicht aus wie ein Mensch, der sich seiner Niederlage bewußt ist – auch nicht wie ein Märtyrer. Vielleicht glaubt er noch, daß die wahre INITIATIVE ihn retten kann.
Ich sage: »Soll ich Ihnen sagen, wie unsere Vergangenheit aussieht? Ich kam in dieses Zimmer, habe Sie an den Stuhl gefesselt und alle Entamoeba zerstört. Und sollen ich Ihnen sagen, wie die Zukunft aussehen wird? Ich werde Sie von Ihrem Loyalitätsmodul befreien, und Sie werden mir dankbar dafür sein. Und zusammen werden wir das auch für die anderen Mitglieder der Liga tun. Wenn sie alle aussagen, dann werden sich die Behörden um die Machenschaften von ASR und BDI kümmern und vielleicht sogar der gesamten INITIATIVE einen Riegel vorschieben.
Dann werden wir fröhlich auseinandergehen und glücklich leben für den Rest unserer Tage.«
Ich gehe aus dem Haus und umrunde in einem weiten Bogen den Hafen, stadteinwärts – eigentlich nur, um mich abzulenken, um an nichts zu denken. Ich könnte E3 aktivieren und zum unerschütterlichen Stoiker werden; ich könnte es mit Master versuchen und einfach einschlafen. Aber ich tue keines von beidem. Nach vielleicht drei Kilometern sehe ich nach der Uhrzeit: ein Uhr dreizehn.
Die erfolgreiche Version von mir müßte nun etwa vierzig Minuten in der Wohnung gewesen sein. Ich drehe mich um und brülle einige finstere Flüche über die Straße. Niemand kümmert sich darum. Mit einem Mal fühle ich mich schrecklich müde und setze mich auf den Bordstein.
Die Gewohnheit siegt über meine Wut. Ich rufe Karen. Nichts geschieht. Ich lasse Utility den Datenbus überprüfen, das Modul ist noch vorhanden. Ich lasse die Testprogramme laufen, und mein Schädel droht zu explodieren – nichts als Fehlermeldungen. Ich breche die Testläufe ab und vergrabe den Kopf in den Armen. Nun gut, dann sterbe ich eben allein. Wenn es nur schnell gehen würde…
Nach einer Weile komme ich wieder auf die Beine. Ich frage eine Frau, die gerade vorbeigeht: »Was ist das hier? Etwa das Leben nach dem Tode?«
»Nicht, daß ich wüßte«, meint sie.
Ich nehme das Würfelspiel aus der Tasche, stecke es wieder ein, hole es noch einmal hervor. Was kann ich damit beweisen? Wenn ich noch immer verschmiert bin – und das muß ich sein –, dann werde ich bei jedem Wurf über sechsunddreißig weitere Versionen verteilt, von denen eine einzige überhaupt die Wahrheit zur Kenntnis nehmen wird.
Ich versuche es trotzdem.
Sieben. Drei. Neun. Neun. Zwei. Fünf.
Worauf wartet ihr? Sucht ihr noch einmal die ganze Stadt ab, um versteckte Kopien des Moduls zu suchen? Wiederholt ihr den Einbruch bei BDI, um das Original zu zerstören?
Aber warum sollte ich so etwas tun – ohne inzwischen kollabiert zu haben, um das erste Wunder dieser Nacht unwiderruflich Wirklichkeit werden zu lassen und das Risiko des zu langen
Weitere Kostenlose Bücher