Quarantäne
eigenen Leben, ein Eindringling im Gehäuse meines Schädels. Weit mehr zu bedauern als ein Mensch, der sein Gedächtnis verloren hat. Denn ich erinnere mich an eine Vergangenheit und weiß zugleich, daß sie nicht mir gehört.
Was die Nachrichten vermelden ist nichts weiter als der alltägliche, ganz normale Wahnsinn: Bürgerkrieg in Madagaskar, Hungersnot im Nordwesten der USA, wieder ein anscheinend unmotivierter Bombenanschlag in Tokio, der jüngste unblutige Staatsstreich in Rom. In den Lokalnachrichten nichts als Banalitäten – Firmen, die den Besitzer wechseln, die üblichen politischen Skandale. Gegen Abend bin ich sogar bereit zuzugeben, daß ich keinerlei Urteil darüber habe, was in den letzten zwei Tagen passiert ist – und mich dankbar der Einsicht zu überlassen, daß alles nichts weiter als eine paranoide Wahnvorstellung ist.
Das Bild auf dem Monitor flackert und verschwindet ganz. Ich hämmere gegen den Kasten, da taucht es wieder auf – aber der Text beginnt zu tanzen, löst sich in die einzelnen Buchstaben auf, die wie Blätter auf einem Bach langsam davontreiben – bis sie den Rand des Bildschirm erreichen. Aber auch da gibt es kein Halten: Sie schweben durchs Zimmer, ich strecke die Hand aus und fange einige davon auf. Sie schmelzen auf der Haut wie Schneeflocken.
Ich blicke aus dem Fenster. Die Reklamehologramme lösen sich in Stücke auf, verschwinden ganz oder bilden völlig neue Muster. Aus einigen sind abstrakte Kunstwerke entstanden, kräftige Pinselstriche in lebhaften Farben, die langsam in der Nachtluft zu verdunsten scheinen. Andere bleiben gegenständlich, doch verfremden sie auf surrealistische Weise ihren Gegenstand: Flugzeugen wachsen Schuppen und Klauen, lachende Kinder verwandeln sich zurück in durchscheinende, rosa Embryonen. Ein riesiger Strahl Coca-Cola, der sich zwischen körperlose Lippen ergießt, glüht wie brennendes Napalm und erleuchtet die Häuser ringsumher; eine dicke, schwarze Rauchwolke steigt wirbelnd zum Nachthimmel auf.
Am Fahrstuhl wartet ein alter Mann, ich grüße. Aber er starrt mich nur an mit weit aufgerissenen Augen. Ich drücke auf den Knopf, aber auf dem Display scheint ein Film abzulaufen, eine unaufhörliche Folge von Symbolen, hin und wieder mit einem chinesischen Schriftzeichen. Es geht zu schnell, als daß ich es übersetzen könnte. Der Mann murmelt etwas auf Kantonesisch: Es kann meine Gedanken lesen. Ich sehe ihn an, da beginnt er zu weinen. Ich überlege, wie ich ihm helfen könnte, vielleicht mit einer Erklärung, was geschieht. Aber ich weiß nicht, wo ich da anfangen soll – und wie es ihn trösten könnte.
Ich nehme die Treppe.
Die Menschen auf der Straße sind merkwürdig still, fast wie Kinder, die den Zorn der Eltern fürchten. Eigentlich habe ich Hysterie und Aufruhr erwartet, aber sie scheinen eher wie gelähmt, gehen ihres Wegs wie Schlafwandler. Die wildgewordenen Hologramme bieten ein gespenstisches Bild, aber das ist keine Erklärung. Es könnte ja gewollt sein, Teil eines absurden Theaters, ein Spaß, den sich irgendwelche Hacker mit Zugang zur Steuerelektronik gemacht haben; niemand kann doch wissen, was es eigentlich zu bedeuten hat.
Wirklich nicht? Vielleicht gibt es schon lange so etwas wie die Gemeinschaft der verschmierten Ichs, die in der kurzen Zeit bis zum nächsten Kollaps sich über den ganzen Planeten ausbreiten, Kontakte pflegen und ein Bewußtsein von solcher Komplexität geschaffen haben, wie wir es uns nicht vorstellen können. Und wer wollte sagen, wieviel davon sich in den kollabierten Zustand hinüberretten läßt?
In der Straße zum Observatorium sehe ich, wie eine Blütenranke das Pflaster durchbricht und wie eine Schlange dem Sonnenlicht entgegentanzt. Zwischen den verwirrten, mit versteinerten Mienen dastehenden Zuschauern sehe ich zwei kleine Kinder, die lachen und vor Freude in die Hände klatschen – vielleicht sind sie es, die dieses Ereignis ausgewählt haben. Die weißen Blütenblätter werden jetzt zu leuchtend bunten Schmetterlingen, die über den Köpfen der Leute davonflattern. Aber ebenso schnell, wie sie die Blütenblätter verliert, läßt die Ranke neue nachwachsen. Die Blüten bleiben erhalten.
Was ist wahrscheinlicher: Ein Eigenzustand, in dem so etwas möglich ist – oder einer, in dem alle Umstehenden gemeinsam dasselbe halluzinieren? Ich bestehe darauf, daß das ein Unterschied ist, obwohl ich nicht weiß, wie lange das überhaupt noch etwas bedeutet.
Ich gehe weiter
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