Quarantäne
Beweist, daß die meisten Menschen sich an die Barriere gewöhnt, sie akzeptiert haben. Wovor habe ich Angst? Daß jede Form der Barrieren-Hysterie, jede obskure Sekte, jede Massenpsychose vergangener Tage wiederkehrt?
Als ich mich gerade abgewendet habe, brechen die beiden Begleiter der jungen Frau in Lachen aus. Einen Augenblick später stimmt sie in das Gelächter ein – und mit einiger Verspätung habe ich begriffen. Sternenwelt ist wieder in Mode, das ist alles. Ein Planetarium unter der Schädeldecke. Ein raffiniertes Spielzeug, keine Vision. Ich habe die Rezensionen gelesen: Das Modul hat eine Menge zu bieten, angefangen beim naturgetreuen Blick auf den Nachthimmel (>Bewundern Sie den Sternhimmel, wie er sein müßte!<) unter Berücksichtigung von Tages- und Jahreszeit einschließlich jeder gegebenen Einschränkung der Sicht etwa durch Wolken, Berge, Häuser etc. – bis hin zur völligen Ausschaltung jedes Hindernisses, so daß man im Weltraum zu schweben scheint, wobei man den Beobachtungspunkt irgendwo in der Milchstraße annehmen oder um Äonen in Vergangenheit und Zukunft verschieben kann.
Das Trio fällt sich in die Arme und lacht, lacht. Sie verspotten die Sterngucker-Sekten, sie sind weit entfernt davon, irgendeinen Aberglauben wiederzubeleben. Diese jungen Leute kennen das wohl aus einem alten Dokumentarfilm. Ich gehe weiter, komme mir ein wenig blöd vor und bin trotz allem schrecklich erleichtert.
Als ich zu Hause ankomme, steige ich nur langsam die Treppen hinauf. Früh genug noch werde ich erfahren, daß auch diesmal keine Anrufe registriert sind. In jeder der elektronischen Zeitungen hatte ich vier Tage lang eine. Suchanzeige; irgendein Witzbold wenigstens hätte sich doch melden müssen. Erst recht am Neujahrstag, denn an arbeitsfreien Tagen lasen die Leute viel mehr Zeitung, blätterten auch mal zum Spaß die Anzeigen durch. Vielleicht war eine Belohnung von zehntausend Dollar nicht genug, doch bezweifle ich, daß mein Klient über eine Verdopplung sehr erbaut wäre. Was nicht heißen soll, daß ich inzwischen wüßte, wer mein Klient ist. Auf der Patientenliste des Hilgemann war niemand mit schwerreichen oder prominenten Verwandten zu finden – und im Rückblick ist das auch nicht verwunderlich. Leute mit genug Geld würden zumindest dafür sorgen, daß die Akte ihres Angehörigen nach allen Regeln der Kunst gefälscht wäre, und wenn sie schweinisch viel Geld hatten, würden sie den armen Irren in einem schalldichten Flügel ihrer abgeschotteten Villa verwahren, fern jeder Gefahr. Ich bin versucht, noch etwas tiefer nachzugraben, aber ich sollte es lieber lassen. Das Bedürfnis, den Auftraggeber zu ermitteln, weil ich mir so besser ein Bild machen kann, ist eine Sache; die andere ist die, daß mich das der verschwundenen Laura nicht einen Schritt näher bringen wird.
Kein Anruf.
Es kostet mich einige Überwindung, nicht auf mein armes Sofa einzuboxen. Die Polsterung hat schon genug gelitten. Bis zum Anzeigenschluß für die nächste Ausgabe ist nicht mehr viel Zeit, wenn ich noch einen Versuch wagen will… Ich rufe die Zeitungsseite mit dem Inserat auf und starre finster auf den Bildschirm; ich überlege, ob es irgend etwas gibt, was die Anzeige interessanter machen könnte, auch ohne daß ich der Belohnung eine Null oder zwei anhänge. Ich habe ein Bild von Laura aus den Hilgemann-Akten benutzt; es ähnelt sehr stark jenem, das man mir bei dem nächtlichen Anruf übermittelt hat – was bedeuten könnte, daß meinem Auftraggeber dasselbe Foto vorgelegen hat. Es ist kein Durchschnittsgesicht, aber wer weiß, wie Laura inzwischen aussieht? Dabei muß man nicht einmal einen plastischen Chirurgen bemühen, eine gute Maske aus Kunsthaut tut es auch.
Ich versuche es noch einmal mit der Anzeige, man wird sehen. Wenn das Mädchen aus Versehen gekidnappt wurde, dann ist es längst tot – und ich bezweifle, daß man die Leiche jemals finden wird, von den Entführern gar nicht zu reden. Meine einzige Hoffnung ist, daß es nicht nur einen triftigen Grund für die Entführung gibt, sondern daß dieser Grund weit riskantere Maßnahmen erforderte, als das Mädchen einzusperren oder umzubringen.
Etwa, sie außer Landes zu schaffen.
Laura an Bord eines Flugzeugs zu bringen wäre nicht schwierig. Ihren Schwachsinn konnte man fast ebenso leicht tarnen wie ihr Gesicht. Es gibt Dutzende verbotener Module, die aus ihr eine Marionette in der Art eines ferngesteuerten Reisebegleiters machen konnten,
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