Quarantäne
beiden Male? Wie weit kam sie?«
»Beim ersten Mal bis in den Park. Ein paar Kilometer weit das zweite Mal. Wir fanden sie am anderen Morgen, spazierte durch die Gegend und machte dabei dasselbe unschuldige, blöde Gesicht wie immer. Ich wollte eine Kamera in ihrem Zimmer haben, aber das Hilgemann machte nicht mit. Wegen dieser UN-Konvention über die Rechte der Geisteskranken. IS hat jede Menge einstecken müssen nach dieser Sache in dem texanischen Gefängnis; sie sind sehr, sehr vorsichtig geworden.« Er lacht. »Und wie sollte ich zusätzliche Maßnahmen begründen? Die Patienten sind hilflos wie junge Kätzchen. Die Zimmer haben eine Tür und ein Fenster, die vierundzwanzig Stunden am Tag überwacht werden – was soll ich da noch fordern? Ich meine, ich könnte natürlich dem verdammten Direktor sagen: >Sie sind doch der Oberschlaumeier hier, sagen Sie mir doch, wie die Kleine rausgekommen ist! Sagen Sie, wie man sie aufhalten kann.<«
Ich schüttle den Kopf. »Sie hat das unmöglich allein geschafft. Sie kann das nicht getan haben. Jemand hat sie rausgeholt. Jedesmal.«
»Ja? Wer? Warum? Als was würdest du die ersten beiden Male bezeichnen? Probeläufe?«
Ich zögere. »Täuschungsmanöver? Damit der Eindruck erweckt wird, sie könnte sich aus eigener Kraft befreien – damit man, wenn sie sie tatsächlich mitnehmen, glaubt…« Casey verzieht schmerzlich das Gesicht, als wäre nun unwiderruflich die Grenze des Zumutbaren überschritten. Ich sage: »Okay. Hört sich albern an, ich geb’s zu. Aber ich kann einfach nicht glauben, daß sie so etwas tun kann.«
Es dauert immer eine Ewigkeit, bis ich einschlafe. Master (Human Dignity Ltd., neunhundertundneunundneunzig Dollar) kann das auf Wunsch erledigen, wie auf Knopfdruck. Aber irgendwie bringe ich es immer fertig, die Entscheidung vor mir herzuschieben. Es gibt immer einen Grund, noch zu warten, immer ein Problem, das zu überdenken ist – als ob man heute noch wie früher über jede ungelöste Frage endlos grübeln müßte.
Vielleicht leide ich auch an dem, was man >Zenos Lethargie< nennt. Nun, da so vieles im Leben nichts weiter als eine Frage des aktiven Auswählens ist, neigen die Gehirne dazu, sich an den Problemen festzufressen. Nun, da so vieles durch bloßes Wünschen wahr werden kann, bauen die Leute immer neue zusätzliche Schritte in ihr Denken ein, um sich vor dem Wünschen, der großen Freiheit zu schützen. Sie wollen sich klarwerden, worüber sie sich klarwerden wollen, damit ihnen klar wird, was sie wollen. Eine Endlosschleife.
Was ich in diesem Augenblick will, ist endlich Klarheit im Andrews-Fall. Aber keines der Module in meinem Kopf könnte das für mich bewerkstelligen.
Karen sagt: >Nun gut – du hast keine Ahnung, warum Laura entführt wurde. Also. Dann halte dich an die Fakten. Wo immer man sie hingebracht hat, irgend jemand muß sie irgendwo gesehen haben. Vergiß das Motiv, finde erst einmal heraus, wo sie ist!<
Ich nicke. »Du hast recht, wie immer. Ich werde eine Suchanzeige aufgeben…«
>Morgen.<
Ich lache. »In Ordnung, morgen.«
Ich spüre die vertraute Wärme an meiner Seite. Ich schließe die Augen.
>Nick?<
»Ja?«
Sie küßt mich ganz leicht. >Träum von mir.<
Das tue ich.
2
»Hallelujah! Ich kann sie sehen! Die Sterne, da sind sie!«
Erschrocken drehe ich mich um und sehe eine junge Frau auf der Straße knien, inmitten einer Menschenmenge. Sie hat die Arme ausgebreitet und starrt verzückt in den strahlend blauen Himmel. Für einen Augenblick ist sie wie zur Salzsäule erstarrt, vor Staunen überwältigt, dann kreischt sie wieder: »Ich kann sie sehen! Ich kann sie sehen!« Sie beginnt, sich mit den Fäusten gegen die Brust zu hämmern, sich hin- und herzuwiegen. Sie keucht, schluchzt.
War diese Sekte nicht seit zwanzig Jahren ausgestorben?
Die Frau kreischt, die Frau windet sich. Freunde stehen verlegen neben ihr, während die Passanten vorsichtig einen Bogen um die Szene machen. Ich sehe zu, mein Widerwille wächst, während Kindheitserinnerungen an allerlei merkwürdige Heilige, die sich auf der Straße austobten, wieder ans Licht kommen.
»All die wunderbaren Sterne! Die Sternbilder… Skorpion… Waage… Centaurus!« Tränen laufen ihr übers Gesicht.
Nur mühsam bekomme ich die aufsteigende Panik in den Griff. Was rege ich mich so auf? Es ist nur eine einzelne Frau, eine einzelne Verrückte. Das Aufsehen, das sie verursacht, beweist doch, wie selten solche Fälle heutzutage sind.
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