Quarantäne
fünfzehn Jahre jünger ist als ich, ist in dieser Hinsicht sehr altmodisch: >Man ist wachsamer, wenn man sich beschäftigt. Und diese vielen Stunden im Wächter-Modus dahinzuvegetieren – bedeutet das nicht, daß man die Hälfte seines Lebens gar nicht lebt?<
Es gibt noch ein paar Leute mehr, die nachts arbeiten, aber wir haben wenig mit ihnen zu tun. In einem Punkt nämlich hatte ich völlig recht: Lauras Zimmer wird von einem separaten System überwacht, und die Leute, die sich mit ihr befassen, arbeiten rund um die Uhr. Sie haben eine halbe Etage, vollgestopft mit Computern, für sich allein. Einige Angestellte grüßen Huang, als wir vorbeigehen, doch die meisten ignorieren uns. Ich schiele nach den Bildschirmen an den Arbeitsplätzen: Einige zeigen Schemata von Nervennetzen, andere sind von oben bis unten mit Formeln vollgeschrieben; ein einzelner Monitor zeigt eine Skizze des Kellergeschosses, in dem sich Laura befindet. Doch nur kurz, schon hat der Mensch davor etwas anderes aufgerufen. Einen Moment lang frage ich mich, wie die Geschichte wohl ausgegangen wäre, wenn Culex genau dieses Bild für mich photographiert hätte. Aber was soll’s.
Um Mitternacht löst Lee Huang ab. Sie ist vergleichsweise schweigsam, und E3 reagiert darauf, indem es mich nun hundertprozentig in den Wächter-Modus versetzt. Man verliert nicht das Zeitgefühl dabei, keineswegs, es ist vielmehr so, daß die Zelt einen nicht mehr interessiert. Als Yang erscheint, um mich abzulösen, bin ich weder überrascht, noch freue ich mich darüber. Ich fühle überhaupt nichts.
Auf dem Weg zur U-Bahn deaktiviere ich das Modul. Die Scheuklappen mit einem Mal los zu sein, das ist zu viel; verwirrt bleibe ich stehen, es gibt noch eine Welt um mich herum – leere, chaotisch angelegte Straßen, Fabriken und Labors in Form von Betonklötzen, das Grau der allerersten Morgendämmerung. Die Luft ist kühl und angenehm. Auf einmal zittere ich vor Freude.
Mein Auftraggeber ruft wie erwartet am Zwölften an, doch hüllt er sich in Schweigen. Keine Kontonummer – aus Furcht wohl, ich könnte den Weg der Überweisung bis an ihr Ziel verfolgen. Dabei ist das Risiko kaum größer als damals, als das Geld von seinem auf mein Konto wanderte.
Meine Möbel sind angekommen. Ich habe die Aufenthaltserlaubnis, mit Brief und Siegel. In meiner Freizeit beginne ich, die Stadt für mich zu entdecken. Den Stadtplan von Déjà-vu benutze ich nach wie vor, aber das ganze Touristengerede habe ich abgeschaltet. Ich will nicht zu Tempeln und Museen pilgern, ich wähle irgendeine beliebige Richtung und ziehe los. Ich gehe an Wohnblocks und Bürotürmen vorbei, an Kaufhäusern und Flohmärkten. Die Hitze und die vielen Menschen sind immer gleich bedrückend und erdrückend, und immer wieder überrascht mich der Monsunregen, als wäre ich den ersten Tag hier – aber es scheint, als ob ich aus reiner Gewohnheit auf das Klima schimpfe und nicht deshalb, weil ich mich nicht anpassen könnte.
Huang Qing wohnt einige Kilometer westlich von mir, er hat eine Wohnung gemeinsam mit seiner Freundin Teo Chu, die komponiert und auch eigene Musik-ROMs produziert. Eines Vormittags hat man mich eingeladen, und schließlich sitzen wir da und lauschen ihrem neuesten Werk. Seltsame, ständig wechselnde Rhythmen, hohe, endlos aufsteigende Skalen, genau bemessene Pausen – eine Musik von hypnotischer Schönheit. Sie erklärt mir, daß es ein Werk im Geist der traditionellen kambodschanischen Musik sei.
Beide kamen als Flüchtlinge hierher, aber nicht aus dem alten Hongkong. Huang wurde in Taiwan geboren, und fast die ganze Familie hatte unter der nationalchinesischen Regierung in Staatsdiensten gestanden; elf Jahre nach der Invasion war ihnen noch immer fast jede Arbeit versagt. Huang war fünf, als sie nach Süden flohen. Piraten enterten das Schiff, töteten einige der Insassen. »Wir hatten Glück«, sagt er. »Sie haben das Navigationsgerät gestohlen und die Maschinen unbrauchbar gemacht, aber sie haben nur einen Teil unseres Wasservorrats gefunden. Einige Tage später trafen wir auf ein Patrouillenboot aus Mindanao, das uns zur Reparatur in den Hafen schleppte. Damals war die Stimmung auf den Philippinen noch antikommunistisch, man hat uns wie Helden gefeiert.«
Chu stammte aus Singapur. Ihre Mutter, eine Journalistin, saß seit acht Jahren im Gefängnis, ohne daß man sich die Mühe gemacht hatte, ihr einen Grund dafür zu nennen. Als man sie verhaftete, studierte Chu gerade
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