Quarantäne
bis in den späten Abend im Labor, manchmal bleibt sie für einen oder gar zwei Tage in ihrer Wohnung, um sich auszuruhen. Aber die ganze Zeit ist sie innerhalb des Gebäudes – was meine Arbeit sehr viel einfacher macht.
Am Tag vor meiner ersten Schicht bin ich ziemlich nervös, obwohl ich es kaum erwarten kann. Ich bin dem Geheimnis der INITIATIVE einen Schritt nähergekommen. Vielleicht ist es anmaßend, wenn ich hoffe, eines Tages auch der ganzen Wahrheit für würdig befunden zu werden. Aber schließlich kennt doch auch Chen die ganze Wahrheit, oder? Und sie trägt kein Loyalitätsmodul mit sich herum.
Zögernd komme ich auf meine Theorien über Lauras Entführung zurück. Nach Monaten, in denen die INITIATIVE sich in meiner Vorstellung mehr und mehr in ein Abstraktum verwandelt hat, ist es ungewohnt und etwas beunruhigend, nun konkrete, einfache, ganz gewöhnliche Möglichkeiten zu erwägen. Aber wovor habe ich Angst? Daß mein Idealbild der Wahrheit nicht standhält? Das ist unmöglich, so viel steht fest. Was immer die INITIATIVE tut, so unbedeutend es auch scheinen mag, ist Teil eines Plans – und das heißt, daß es wichtiger ist als alles, was auf diesem Planeten je unternommen wurde.
Die meisten meiner Theorien erscheinen jetzt absurd. Ich kann nicht glauben, daß die multidisziplinäre Zusammenarbeit von Forschergruppen in mehreren Ländern einzig dem Zweck dienen soll, die Rolle irgendeines albernen Medikaments bei der Entstehung vorgeburtlicher Hirnschäden zu klären. Selbst wenn Schadenersatzleistungen in Milliardenhöhe drohten, leuchtete nicht ein, warum der Hersteller so viel Geld nur für die Untersuchung des Problems ausgab, anstatt nach Kräften die juristische Verfolgung zu sabotieren – was erfolgversprechender und auf jeden Fall billiger war.
Nur eine einzige Theorie macht noch Sinn: Laura, die Entfesselungskünstlerin. Und wenn ich mir nicht vorstellen kann, wie dieses Talent funktionieren soll, dann sollte ich mich damit trösten, daß ich dafür eben zu dumm bin. Sie ist aus dem Hilgemann ausgebrochen. Sie hat sich aus ihrem Zimmer im BDI-Keller befreit. Es gibt noch andere Erklärungen dafür, aber die sind zu weit hergeholt. Was sonst sollte denn in der Nacht meines Einbruchs passiert sein? Daß die Tür versehentlich nicht abgeschlossen war und sie hinausspazierte – um sie hinter sich abzusperren? Auch wenn es kein besonders kompliziertes Schloß war – ohne Schlüssel war das ein Bravourstück, nicht schlechter als ein Ausbruch bei abgeschlossener Tür.
Eins ist klar: Wenn es so etwas wie Telekinese gibt, dann wäre das ein Projekt, dessen Erforschung und Verwertung der INITIATIVE würdig wäre.
Und wenn es BDI gelungen sein sollte, Lauras Fähigkeiten in ein Modul zu bannen und verfügbar zu machen? Dann mußte dieses Modul getestet werden.
Von Freiwilligen, natürlich.
»Auf… ab… auf… auf… ab… auf… ab… auf… ab…ab…ab… auf…ab… auf… auf…ab… auf… ab… auf… auf.«
Die Stimme, die laut und deutlich in Raum 619 zu hören ist, klingt absolut ruhig und gleichmäßig, auch wenn es unverkennbar ein Mensch ist, der da spricht. Es gibt heute verblüffend echt wirkende Computerstimmen, doch hat man ihnen eine menschliche Eigenschaft bisher vorenthalten: Sie werden niemals heiser vor Überanstrengung.
Das Labor ist bis unter die Decke mit Elektronik vollgestopft; Glasfaserkabel verbinden die Geräte auf den hohen Gestellen. Inmitten des Wirrwarrs sitzt eine Frau mittleren Alters an einer Konsole und starrt auf einen Monitor mit Histogrammen in verschiedenen Farben; zwei junge Männer neben ihr sehen gespannt zu. Dossier (Mindvaults Inc., dreitausendneunhundertundfünfzig Dollar) identifiziert die drei auf Anhieb als ASR-Mitarbeiter, denen der Zutritt zu diesem Labor gestattet ist: Leung Lai-shan, Lui Kiu-chung, Tse Yeung-hon. Anzureden sind sie mit Doktor. Dr. Lui streift mich mit einem Blick und wendet sich dann wieder dem Bildschirm zu. Für seine Kollegen scheine ich gar nicht zu existieren. Von Chung Po-kwai ist nichts zu sehen, aber ich nehme an, daß es ihre Stimme ist, die aus dem Lautsprecher kommt.
»Auf… ab… auf… ab… ab… ab… auf… ab… auf… auf.«
Jetzt bemerke ich ihren anderen Leibwächter, Lee Hing-cheung, neben einer Verbindungstür, vor der in Augenhöhe ein leuchtend rotes Hologramm schwebt: KEIN ZUTRITT. Wir begrüßen uns mit einem Händedruck, eine willkommene Gelegenheit für Dossier, mittels Transmitter
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