Quarantäne
eine U-Bahnfahrt auf der gewohnten Strecke zu einer ungewohnten Zeit mir Unbehagen bereitet. Was habe ich mir zuschulden kommen lassen? Welches sind die Versäumnisse im Dienst der INITIATIVE, die ich mir vorwerfen muß? Sicher sind es so viele, daß ich nur durch ein Wunder so lange ungestraft geblieben bin… Was erwartet mich jetzt bei Chen? Ein Verweis? Eine Versetzung auf einen weniger verantwortungsvollen Posten? Die Entlassung!?
Chen faßt sich äußerst kurz. »Sie übernehmen eine neue Aufgabe. Bei einem der anderen beteiligten Unternehmen. Sie werden Leibwächter einer unserer freiwilligen Versuchspersonen sein.«
Freiwillige? Ich frage mich kurz, ob das nicht bloß ein Euphemismus ist – ob es noch andere hirngeschädigte Versuchspersonen wie Laura gibt –, aber dann zeigt mir Chen ein Bild von Chung Po-kwai, aufgenommen während der Diplomverleihung einer Universität, womit wohl klar ist, daß sie etwas anderes meint.
»Sie werden zu A-S-R überwechseln, Advanced Systems Research. Nicht jeder dort ist mit dem Teilprojekt vertraut, das wir hier bearbeiten, und dafür gibt es gute Gründe. Es ist im Interesse der INITIATIVE, daß das Projekt als Ganzes für die einzelnen Parteien nicht so leicht überschaubar ist. Also werden Sie unter keinen Umständen mit einem Menschen von ASR über BDI oder die Dinge reden, die wir hier tun. Ebensowenig werden sie mit niemandem hier, ausgenommen mich selbst, über die Arbeit von ASR reden. Ist das klar?«
»Ja.«
Und da begreife ich, während mir vor Freude das Blut in den Kopf schießt, daß ich nicht getadelt, nicht in irgendeine Ecke abgeschoben werden soll. Nein, es geht um eine Vertrauensstellung. Ich bin befördert worden!
Und warum ich? Warum nicht Lee Soh Lung, warum nicht Huang Qing?
Das Loyalitätsmodul, natürlich. Es ist nicht meine Person an sich, sondern das Modul, dem man vertraut.
»Noch Fragen?«
»Wovor genau muß ich Miss Chung schützen?«
Chen zögert. Dann sagt sie trocken: »Vor allem, was passieren könnte.«
Ich kündige bei BDI. Von Chen bekomme ich ein Zeugnis, das mich fast erröten macht, und die Nummer einer Stellenvermittlung für Wachpersonal. Ich rufe dort an; zufällig hat man eine Stelle anzubieten, die mir wie auf den Leib geschrieben scheint. Das Einstellungsgespräch findet über Videophon statt; ich übermittle ihnen Zeugnis und Lebenslauf. Achtundzwanzig Stunden später habe ich den Job.
Advanced Systems Research residiert in einem pechschwarzen Hochhaus, dessen Fassade aus krümeliger Holzkohle zu bestehen scheint. Doch sind in die Oberfläche des schwarzen Zeugs mikrofeine silberne Spinnenfäden eingewoben – unsichtbar dünn, bis auf die Stellen, wo die glänzenden Fäden das Sonnenlicht reflektieren. Ein Glitzern, so intensiv wie von Diamanten. Diese prächtige, so gar nicht zurückhaltende Architektur macht mich anfangs ein wenig besorgt. Zieht sie nicht viel zuviel unerwünschte Aufmerksamkeit auf sich? Aber das ist Unsinn. In diesem Teil der Stadt müßte im Gegenteil jede Form von Bescheidenheit Verdacht erregen. Und sicher hat ASR bei einer Überprüfung seiner Geschäfte nichts zu befürchten. Sie haben keine nachweisbare Verbindung zu BDI und sind in keinerlei illegale Machenschaften verstrickt.
Die Sicherheitsmaßnahmen stellen alles in den Schatten, was man sich bei BDI je zu erträumen wagte. Es gibt Wachposten auf jeder Etage; die Kontrollen am Haupteingang sind kaum weniger streng als an einem Gefängnistor. Chung Po-kwai und die anderen Freiwilligen wohnen in Apartments im dreißigsten Stock. Daß man zu alledem auch noch Leibwächter beschäftigt, will mir als pure Übertreibung erscheinen – aber vermutlich gibt es Gründe dafür. Daß die INITIATIVE Feinde haben muß, erfüllt mich mit Wut und bestärkt mich in meinem Entschluß, meinen Pflichten mit der allergrößten nur denkbaren Sorgfalt nachzukommen. Habe ich das Einsatzmodul aktiviert, kann ich natürlich keine Wut mehr empfinden, doch bleiben Vorsätze, die ja nicht nur dem emotionalen Teil meiner Person entstammen, auch in diesem Zustand wirksam.
Tong Hoi-man, der Sicherheitschef, weist mich in meine Arbeit ein und veranlaßt auch gleich, daß ich einige zusätzliche Module bekomme, die für die Kommunikation mit der komplizierten Überwachungselektronik von ASR unerläßlich sind. Meine Arbeitsschicht dauert zwölf Stunden, von sechs Uhr abends bis sechs Uhr morgens. Der Zeitplan von Miss Chung ist variabel; manchmal ist sie
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