Quarantäne
an der Universität Seoul; seither war ihr nicht ein einziges Mal erlaubt worden, wieder heimischen Boden zu betreten. Einen Vater hat Chu nicht, sie wurde durch Parthenogenese gezeugt. Den Großeltern schickt sie regelmäßig Geld für die Anwälte, doch war bis heute der Haftbefehl alle achtzehn Monate in schöner Regelmäßigkeit erneuert worden.
Ich glaube nicht, daß Chu über die BDI-Machenschaften informiert ist, deshalb muß ich die Gründe, die mich nach Neu-Hongkong geführt haben, vorsichtig umschreiben. Huang starrt auf den Teppich, während ich meine Geschichte zum besten gebe: der Gefängniswärter, der nach sechs Jahren Dienst plötzlich auf der Straße saß, weil die neuen Eigentümer der Rehab-GmbH das so wollten. Ohne Sentinel scheint sich Huang in meiner Gesellschaft etwas unbehaglich zu fühlen – und das kann ich gut verstehen. Ich bin nun ziemlich sicher, daß er kein Loyalitätsmodul besitzt, und da muß ihm wie jedem normalen Menschen so viel Ergebenheit der neuen Aufgabe gegenüber krankhaft erscheinen. Kennt er doch den Grund dafür, ohne – wie ich! – zu wissen, wie einzig richtig mein Tun ist. Ich glaube sogar, daß man ihn angewiesen hat, sich mit mir anzufreunden, was naturgemäß die ganze Sache für ihn noch schwieriger macht.
In den Wochen danach kehrt langsam der Alltag ein, auch ein neues Leben bleibt nicht immer neu. Meine Neugier, was Laura und die INITIATIVE und den Zusammenhang zwischen beidem betrifft, hat nicht im geringsten nachgelassen, aber ich weiß natürlich, daß mein Mangel an Information darüber im Interesse der INITIATIVE ist. Aber trotzdem, ich möchte doch mehr beitragen, als neuneinhalb Stunden den Zombie-Nachtwächter zu spielen. Weiß ich doch nicht einmal, vor wem ich BDI zu schützen habe. Zweifellos war ich der einzige Mensch auf diesem Planeten, der Laura auf den Fersen war. Selbst wenn mein Ex-Auftraggeber einen anderen Detektiv angeheuert hat – so viel Glück, wie ich gehabt habe, kann es nicht ein zweites Mal geben. Außerdem hat man dafür gesorgt, daß die Spur über die Auftragslisten des Pharmahandels inzwischen verwischt wurde. Also: Wer ist der Feind?
Ich habe gelernt, ohne Karen auszukommen. Ihre ironischen Bemerkungen machen mich wütend und verwirrt. Ich versuche, ihr meinen Willen aufzuzwingen… stelle mir vor, wie sie dieses Leben freudig mit mir teilt… aber das ist auch schon alles, was ich erreichen kann. Ich kann meine Erinnerungen nicht bis zu jenem Punkt verfälschen, daß sie nun erscheint und billigt, was aus mir geworden ist. Doch auch ohne das Modul träume ich von ihr; es sind nur Alpträume, ein wahrer Sumpf ketzerischer Gedanken, deren Echo noch beim Erwachen nicht vergangen ist. Aber es ist nicht der Sinn, der in meinem Kopf widerhallt, es ist die schiere Wut ihres Intrigierens. Ich gebe Master den Befehl, sie aus meinen Träumen fernzuhalten. Es tut weh, ohne sie zu sein, aber die INITIATIVE gibt mir die Kraft dazu.
Hin und wieder, wenn ich in der Hitze und dem Lärm des Morgens daliege und mich nicht entschließen kann, einzuschlafen, mache ich mir die Mühe, einen Blick auf den Riß mitten durch meine Person zu werfen. Der Widerspruch ist nach wie vor da. Und jedesmal ist mir bewußt, daß ich angesichts meines Schicksals erschrecken müßte – und weiß doch genau, daß ich nichts dergleichen fühle. Ich fühle mich nicht als Opfer, nicht als Gefangener eines fremden Willens. Ich weiß, wie grotesk, irrational, widersprüchlich es ist, sich mit meiner Situation abzufinden – aber war denn jemals zuvor mein Glück das Resultat eines exakten logischen Schlusses oder einer bis ins letzte durchdachten Philosophie?
Es gibt Zeiten, da bin ich mutlos, fühle mich alleingelassen und überfordert. Das Loyalitätsmodul tut nichts, um meine Stimmung zu heben – es hält sich aus jeder Art von Stimmung heraus. Dann höre ich Musik, starre in den Fernseher. Möglichkeiten, sich zu betäuben, gibt es genug.
Doch am Ende, wenn auch die schönste Melodie verklungen, das bunteste Bild vergangen ist, läßt es sich nicht länger vermeiden, daß man in den Spiegel seiner Seele blickt und sich fragt, wofür man eigentlich lebt. Dann habe ich eine Antwort, klarer und eindeutiger als je zuvor.
Mein Leben gehört der INITIATIVE.
6
Als Chen Ya-ping mich in ihr Büro bestellt – das erste Mal in sechs Monaten –, werde ich doch etwas nervös. Die tägliche Routine steckt mir inzwischen so tief in den Knochen, daß schon
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