Quarantäne
Regenguß überrascht hat.
Ich gebe den Befehl zum Einschlafen.
Ich wappne mich mit einem ganzen Dutzend Ausreden, bevor ich mich daran wage, das Überwachungssystem von ASR erneut herauszufordern: indem ich das dreißigste Stockwerk verlasse. Aber ich brauche keine Ausreden. Die beiden Wachen an der Eingangskontrolle wenden den Blick ab, als ich vorbeigehe – sie tun es synchron mit solcher Beflissenheit, daß ich fast auflache. Oder sollte ich lieber zitternd und stammelnd zu Boden sinken, weil ich nun den letzten Beweis für meinen Irrsinn habe? Statt dessen schließe ich die Augen für einen Moment und sage mir, ohne rechte Überzeugung, daß auch das kaum verwunderlicher ist als eine ununterbrochene Folge von hundert Einserpaaren beim Würfeln.
Ich entscheide mich für die Treppe; Kameras gibt im Treppenhaus und im Lift, aber mir fällt ein, daß durch das Benutzen des Lifts ich womöglich mit jemand >gekoppelt< werden könnte, weil ich so seinen Weg durch das Gebäude beeinflusse.
Ich entscheide mich für die Treppe? Vielleicht habe ich in der Sache überhaupt nichts zu sagen; vielleicht bestimmt mein verschmiertes Ich mein Denken und Tun bis ins kleinste Detail. Aber die Illusion des freien Willens ist so mächtig wie immer, und ich kann (kann?) nichts anderes glauben, als daß die Wahl bei mir liegt.
Ich steige zum sechsten Stock hinunter, der um diese. Zeit verlassen und hermetisch abgeschlossen sein müßte – aber die Tür vom Treppenhaus her gibt auf meinen Druck nach. Die Sicherheitsschleuse ist nicht besetzt, dafür blockiert ein schweres Stahlgitter den Durchgang. Es gleitet zur Seite, bevor ich noch einen Blick auf die Schaltkonsole geworfen habe – für deren Betätigung man zwei Magnetschlüssel und die Freigabe aus der Überwachungszentrale braucht.
Ich gehe hindurch, schwindlig vor Erregung, ohne sagen zu können, ob es ein Gefühl der Allmacht oder die Angst vor dem unausweichlichen Versagen ist. Ich weiß wirklich nicht, ob ich nun mit übermenschlichen Kräften ausgestattet bin oder man mich als bloßes Werkzeug benutzt. Ich bin es nicht, der alles das tut… und doch, zweifellos geschieht alles nach meinem Willen. Vom ersten albernen Würfeltrick an hat mein verschmiertes Ich meinen Wünschen gehorcht. Die Angst, daß es sich sträuben wird, ist völlig unbegründet. Die anfänglichen Probleme mit meinen Modulen, das Erscheinen von Karen, das waren Kinderkrankheiten, die nun längst überwunden sind. Und das ist kaum überraschend: Wenn ich keine Ahnung hatte, was ich tat – höchstens auf der Ebene des Unbewußten –, wie hätte ich da das Geschehen beeinflussen sollen?
Jedes Labor, jeder Lagerraum steht mir offen. Ich trete mal da, mal dort ein, ganz ohne Scheu vor möglichen Kameras und ähnlichem. Zuerst versuche ich dieses Gefühl von Unwirklichkeit, das immer stärker wird, zu bekämpfen, doch dann überlasse ich mich ihm. Keine Sekunde lang glaube ich, daß ich tatsächlich träume, doch ist es einfacher, sich als Träumer zu fühlen, anstatt sich erneut jenem Zwiespalt zwischen gesundem Menschenverstand und den überaus logischen Argumenten auszuliefern, mit denen sich diese beängstigenden Wunder erklären lassen. Lui hat wieder einmal recht: Das Problem ist für mich nicht, das Modul zu benutzen, sondern einen Weg zu finden, bei seiner Benutzung nicht irrsinnig zu werden.
Und es hat vieles von einem Traum an sich. Türen öffnen sich, weil man es erwartet; ich bleibe unentdeckt, weil der Traum es so verlangt. Und wie jeder Träumer bin ich Gefangener des Traums, ich bestimme nicht, was geschieht. Im Raum 619 bleibe ich stehen und wünsche mir, einfach so, daß der Stuhl an der Hauptkonsole sich in die Luft erhebt oder wenigstens zu mir herüberschlittert – und doch bin ich nicht im geringsten überrascht, als er es nicht tut. Nicht, daß ich bezweifle, daß es möglich ist: Es wäre einfach unsinnig.
Ich weiß, wie man im Traum weiß, wann es an der Zeit ist, den sechsten Stock zu verlassen und die vierundzwanzig Treppen nach oben zu trotten. Die Anstrengung, die das kostet, ist absolut realistisch – und meine seltsame Benommenheit läßt deutlich nach, was mir wieder Angst macht. Diese vielen Türen, die Schlösser, die Überwachungselektronik… multiplizierte man die einzelnen Wahrscheinlichkeiten, dann erschrak man aufs neue vor der Gefährlichkeit, der Unmöglichkeit des ganzen Unternehmens.
Ich zögere vor der Tür ins dreißigste Stockwerk, aus Furcht,
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