Quarantäne
Bedenken zu spät. Wenn nichts wirklich ist, vor dem Kollaps, dann bin ich jetzt wohl >schon< kollabiert. Was ich erlebe, gehört schon zu dem ausgewählten Eigenzustand – ich bin jetzt der, der ich sein muß, um das Schloß zu öffnen. Und es scheint nicht, daß ich mich sehr verändert hätte.
Doch als ich den Zeigefinger nach dem Tastenfeld ausstrecke, verschiebt sich mit einem Mal meine Perspektive:
Ich bin einer von zehn Milliarden – das ist wohl das mindeste –, die in zehn Milliarden Häusern sitzen. Habe ich die richtige Kombination, dann werde ICH weiterleben. Wenn nicht, werde ich tot sein…So einfach ist das.
Wie komme ich darauf, daß ich >schon< gewonnen habe? Weil das Zimmer aussieht wie sonst? Weil ich überhaupt noch etwas fühle und sehe? Wenn der Kollaps das Erleben nicht erst erzeugt – sondern nur auswählt –, warum sollte dann das Erleben einer einzelnen Version völlig verschieden von dem der anderen sein? Warum sollte der Zustand, der wirklich wird, der einzige sein, der wirklich scheint!?
Ich will das Schloß aus der Hand legen – niemand zwingt mich, diese Aufgabe zu Ende zu bringen –, aber dann sage ich mir: Das ist das Dümmste, was ich nun machen könnte. Mein verschmiertes Ich ist dabei, jemanden auszuwählen, der das Schloß öffnet, nicht jemanden, der das ganze Experiment verdirbt. Gebe ich auf, dann sind meine Chancen zu überleben gleich Null.
Wieder starre ich auf das Schloß und versuche, aus diesem Labyrinth von Ängsten zu entkommen. Ich war oft genug verschmiert und habe es überstanden. Ja, natürlich, sonst säße ich nicht hier… Und soll das nun irgendeine Hilfe sein? Ich schüttle den Kopf. Das ist doch albern. Jedermann kollabiert. Was bilde ich mir denn ein – daß das gewöhnliche Leben auf dem Humus eines gigantischen, immerwährenden Massenmords gedeiht? Wenn ich das nicht glaube, was diese hypothetischen Aliens angeht, warum sollte ich es dann für uns Menschen akzeptieren?
Hypothetische Aliens? Und wer, bitte schön, hat die Barriere gebaut?
Also… was werde ich tun? Hier sitzen bleiben und warten, bis Lee auftaucht und mir die Entscheidung abnimmt? Oder soll ich mir eine Möglichkeit ausdenken, wie ich für den Rest meines Lebens unbeobachtet bleiben kann?… Aber selbst das würde mich nicht retten: Wenn die erfolgreiche Version von mir kollabiert, werde ich verschwinden – es sei denn, ich bin die erfolgreiche Version. Und die Chancen dafür stehen schlechter als 1:10000000000.
Ich habe keine Ahnung, was den Bann gebrochen hat, aber mit einem Mal bin ich mir da nicht mehr so sicher. Ich sage mir noch: Wenn Quadrillionen virtueller Menschen in jeder Sekunde ausgelöscht werden, dann kann das Sterben so schrecklich nicht sein. Aber das ist ein sehr abstrakter Gedanke, ich glaube nicht wirklich, daß ich sterben könnte. Ich nehme das Schloß und drücke die zehn Tasten ohne zu überlegen, fast ohne hinzuschauen, dann blicke ich gebannt auf die winzige Anzeige über dem Tastenfeld: 1450045409.
Zu gewöhnlich? Zu zufällig?
Zu spät. Ich ziehe am Bügel des Schlosses.
Lui steht am Ufer des großen Teichs im Kau-lun-Park und wirft den Enten Brotstücke zu. Ich denke, daß er zu viele schlechte Agentenfilme gesehen hat. Er sieht sich nicht einmal nach mir um, als ich mich neben ihn stelle.
Ich sage: »Es bringt doch nichts, wenn Sie tun, als würden Sie mich nicht kennen. Ich glaube nicht, daß diese Tatsache unserem Arbeitgeber verborgen geblieben ist.«
Er ignoriert es. »Wie war’s, gestern nacht?«
»Hat funktioniert.«
»Auf Anhieb?«
»Ja, auf Anhieb.« Ich blicke auf das Wasser hinunter und kann mich nicht entschließen, ob ich ihn lieber umbringen oder an mein Herz drücken würde.
Nach einer Pause sage ich: »Eine gute Idee, das mit dem Schloß. Es war eine scheußliche Quälerei – ganze fünf Minuten lang –, aber ich muß zugeben, es hat sich gelohnt.« Ich lache oder versuche es wenigstens – aber überzeugend klingt es nicht. »Ich sage Ihnen, als das verdammte Ding aufging… mein Leben lang war ich noch nie so glücklich. Ich bin fast gestorben, aus purer Erleichterung. Und… ich weiß, das klingt jetzt nicht sehr logisch… aber nichts hätte mir mehr Zuversicht geben können, daß ich auch das übrige schaffen werde.«
Er nickt feierlich. »Nicht das Modul einzusetzen ist das Problem, sondern die richtige Einstellung dazu zu finden. Nur das adäquate Denken wird Ihnen ermöglichen, sicher die Situationen zu
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