Quarantäne
Freiwilligen vorbei, frage mich eifersüchtig, ob etwa einer von ihnen inzwischen auch mit Initiative umgehen kann. Lui glaubt es nicht, aber ganz sicher kann er gar nicht sein. Ich habe mich daran gewöhnt, daß Po-kwai – unwissentlich, unbewußt – die Vermittlerin für mich spielt; aber daß jemand anders an den Geheimnissen der wahren INITIATIVE teilhaben sollte, erfüllt mich mit Widerwillen. Niemand auf der Welt kann das für die INITIATIVE empfinden, was ich empfinde, der ich das Loyalitätsmodul habe – und deshalb darf niemand außer mir nach diesem Wissen streben. Zugleich ist mir bewußt – ohne daß das meinem Glauben Abbruch tut –, daß meine Aufgabe letzten Endes darin besteht, das Modul namens Initiative der Liga in die Hände zu spielen. Aber der Widerspruch ist zu abstrakt, um irgend etwas zu bewirken.
Ich kehre in Po-kwais Diele zurück und warte. Ich warte, ob ich wirklich unsichtbar war oder ob ich einer Selbsttäuschung in Vogel-Strauß-Manier zum Opfer gefallen bin. Kennt mein verschmiertes Ich denn den Unterschied zwischen Nicht-gesehen-werden und Nichtsehen, daß man gesehen wird? Habe ich niemanden außer mir selbst zum Narren gehalten? Was ist wahrscheinlicher: ungesehen an einer Kamera vorbeizukommen – oder mein Gedächtnis und meine Wahrnehmungen so zu verfälschen, daß ich es nur glaube?
Ich weiß es nicht – aber niemand taucht auf, der Rechenschaft fordert, weil ich meinen Posten verlassen habe. Die Stunden vergehen, so eintönig wie immer… Was, wenn ich inzwischen längst apathisch, steif vor Schreck zusammengekauert in einer Zelle im Keller liege – und der Erfolg dieser Nacht nichts weiter ist als eine Halluzination: weil mein verschmiertes Ich eine Version mit ganz außergewöhnlichen Fähigkeiten der Selbsttäuschung ausgewählt hat. Wie kann ich das ausschließen? Die Tatsache, daß es >unwahrscheinlich< ist, ist doch ganz unbedeutend geworden. Wenn ich die Wahrscheinlichkeit zu meinen Gunsten außer Kraft setzen kann, warum dann nicht auch unwillentlich zu meinem Schaden?
Lee Hing-cheung löst mich ab. In der U-Bahn, auf dem Nachhauseweg mustere ich argwöhnisch die Leute – endlich kühn genug, das Ende dieser erzwungenen Vision, das Zerplatzen der Seifenblase herauszufordern. Aber der Wagen löst sich nicht in Nebel auf, die Mitfahrer erwidern kühl meinen Blick, vor dem Fenster huschen die Stationen vorbei – in der richtigen Reihenfolge, in den richtigen Zeitabständen. Kaum anzunehmen, daß in einem einzigen Kopf Platz für das Räderwerk einer solchen Illusionsmaschinerie ist.
Als ich endlich zu Hause bin, hat sich jeder Hauch eines Zweifels verflüchtigt. Ich halluziniere nicht – oder zumindest nicht mehr als gewöhnlich. Im Bett liegend lausche ich den vertrauten Straßengeräuschen; das ist Alltag, und das Alltägliche umfängt mich wie eine schützende Hand – tröstlicher, als ich je vermutet hätte, und fremdartiger dazu. Ich starre auf die Decke über mir, und jeder feine Riß im Putz, jeder Fleck Sonnenlicht scheint für alle Zeit Bestand zu haben, ein Wunder an Ausdauer jenseits des Vorstellungsvermögens. Und wenn ich Milliarden von Jahren all das nicht aus den Augen ließe, damit sich die tieferliegende Wahrheit, das Wesen der Dinge endlich enthüllte, ich würde vergeblich warten. Wie kann ich mein Bravourstück als Illusion abtun, als Lügengewebe?
Draußen wird es dunkler, und plötzlich prasselt Regen gegen das Fenster. Für einen Augenblick frage ich mich: Was haben wir nun wirklich erschaffen – die unzweideutige, materielle, sichtbare Welt unserer Wahrnehmungen… oder die unendlich vielfältige, verschmierte Quantenwelt, die sich dahinter verbirgt? Po-kwai glaubt, daß unsere Urahnen das Universum zum Kollaps gebracht haben… und wenn genau das Gegenteil richtig wäre? Wenn die Schöpfer der Quantentheorie im zwanzigsten Jahrhundert nicht so sehr die Gesetze der mikrophysikalischen Welt entdeckt, sondern sie erst ms Leben gerufen hätten? Könnten wir das je herausfinden? Ist es denn schwerer zu glauben, daß das menschliche Gehirn die Quantenwelt aus der materiellen Welt erzeugt hat, als umgekehrt? Und werden wir jemals von unserem – unüberwindbar – anthropozentrischen Blickwinkel aus die unmenschliche Wahrheit erkennen können?
Vielleicht nicht. Aber ich weiß dafür, welche Eigenschaft für mich die menschlichste von allen ist.
Von unten hört man lautes Kreischen: eine Meute Kinder auf dem Weg zur Schule, die der
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