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Quarantäne

Quarantäne

Titel: Quarantäne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Egan
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bleiben, ein bißchen so dahinzuplaudern, warten, bis sie müde wird. »Was hat Sie aufgeweckt?«
    Sie zuckt mit den Schultern. »Keine Ahnung.« Aber sie überlegt es sich anders und fügt kleinlaut hinzu: »Wieder so ein blöder Traum.«
    »Und worum ging es? Halten Sie mich nicht für neugierig…«
    »Nicht besonders aufregend. Ich bin im sechsten Stockwerk herumgewandert, habe in den Labors herumgeschnüffelt wie irgendein Einbrecher – aber ohne etwas zu stehlen. Ich wollte nur beweisen, daß ich überall hingehen konnte, wo ich wollte.« Sie lacht. »Das ist wohl meine Art, mich dafür zu rächen, daß man mich an der wissenschaftlichen Arbeit nicht teilnehmen läßt. Ich fürchte, meine Träume sind fast immer so leicht zu durchschauen, leider.«
    »Und wie kam es, daß Sie dann aufwachten?«
    Sie runzelt die Stirn. »Ich weiß nicht so recht. Ich kam die Treppen hoch, und… schwer zu sagen, ich hatte auf einmal Angst. Ich hatte Angst, ertappt zu werden. Ich war auf dem Weg hierher, und aus irgendeinem Grund fürchtete ich, daß man mich sehen könnte.« Sie macht eine Pause und fügt dann trocken hinzu: »Vielleicht ist es das, was Sie auf dem Korridor gehört haben. Mich, auf dem Rückweg.«
    Ich weiß, daß sie scherzt, aber es läuft mir kalt über den Rücken. Wer hat dieses Gespräch Wirklichkeit werden lassen? Mein verschmiertes Ich? Ihres? Die kombinierte Wellenfunktion von uns beiden?
    »Na, so was! Dann sind Sie wieder einmal durch Wände getunnelt? Und warum nicht durch den Fußboden? Wozu denn die Mühe, Treppen zu steigen? Es gibt doch auch den direkten Weg von A nach B?«
    »Na ja, im Traum! Wer weiß, vielleicht tut sich das Unbewußte ein bißchen schwer mit der Quantenmechanik. Vielleicht mag es der Wahrheit nicht ins Auge blicken. Vielleicht ist es nicht mutig genug.«
    »Mutig?«
    Sie zuckt mit den Schultern. »Vielleicht nicht das richtige Wort. Mut, Ehrlichkeit? Ich weiß nicht, wie man es nennen sollte. Aber ich habe in letzter Zeit viel über… jenen Teil von mir… nachgedacht, der verlorengeht, wenn ich kollabiere. Und ich komme mir blöd vor – aber zu akzeptieren, daß es… Frauen gibt, die fast identisch mit mir sind, die nur für eine Sekunde oder zwei existieren und Dinge erleben, die ich nicht erleben kann, um dann ausgelöscht zu werden…« Sie schüttelt mißbilligend, fast ärgerlich den Kopf. »Ganz schön überkandidelt, nicht? Wenn man sich Sorgen macht um das Schicksal seiner virtuellen Versionen? Wie viele Leben möchte ich denn haben…«
    »Sagen Sie’s mir.«
    »Nur eines, für mich. Aber ich glaube, daß meine anderen Ichs auch gern eines hätten.« Sie schüttelt wieder den Kopf, diesmal voller Entschlossenheit. »Dabei ist das eine ziemlich perverse Idee. Es ist wie… Tränen vergießen mit dem blutigen Dolch in der Hand, während man schon zum nächsten Streich ausholt… Wir sind eben so, unser Leben bringt es mit sich. Der Mensch trifft eine Wahl, er >tötet< die Menschen, die er hätte sein können. Und wenn meine Arbeit hier das noch einmal deutlich macht, unangenehm deutlich, dann ändert das an der Sache gar nichts. Für uns gibt es keine andere Art, zu leben. Und da nun die Barriere das übrige Universum vor uns schützt, können wir uns in aller Ruhe um die Auswirkungen auf uns selber kümmern.«
    Mir wird wieder einmal bewußt, daß ich so ganz und gar von dieser Geschichte eigentlich nie überzeugt war, und sage: »Einmal vorausgesetzt, daß es wahr ist… Vielleicht gibt es keine solche Auswirkungen, um die wir uns kümmern müßten.«
    Sie rollt mit den Augen. »Hören Sie, Sie brauchen keine Angst zu haben: ASR hat nicht vor, nun aller Welt zu verkünden, daß die Barriere den Rest des Universums vor menschlichen Übergriffen an der Vielfalt der Möglichkeiten schützen soll. Die Leute sind damals schon übergeschnappt, weil es die Barriere gab, auch ohne eine Erklärung dieser Art. Diese Wahrheit ist einfach zu prekär, daß ich nicht einmal sagen kann, was gefährlicher wäre: sie mißzuverstehen oder sie nur zu gut zu verstehen. Das menschliche Wahrnehmen hat das Universum um die meisten seiner Möglichkeiten beraubt. Leben heißt, unaufhörlich unzählige Versionen seiner selbst auszulöschen. Stellen Sie sich mal vor, was für verrückte Sekten sich auf solche Ideen gründen lassen.«
    »Und stellen Sie sich mal vor, wie einige vorhandene Sekten darauf reagieren würden. Jene, die seit vierunddreißig Jahren schon die letzte,

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