Quarantaene
rechten Hand.
Tess kniete sich hin, um ihm in die Augen zu sehen.
»Du bist müde«, sagte sie.
Das stimmte. Noch nie hatte er sich so müde gefühlt.
»Weißt du«, sagte Tess. »Es war nicht ihre Schuld. Und deine auch nicht.«
Was war nicht wessen Schuld? Ray warf seiner Tochter einen hoffnungslosen Blick zu.
»Als du aus dem Auto ausgestiegen bist«, sagte sie. »Dass du überlebt hast. Du warst noch ein Kind.«
Sie sprach vom Tod seiner Mutter. Aber Ray hatte Tess davon nie erzählt. Auch Marguerite hatte er nichts erzählt, oder sonst irgendwem aus seinem Erwachsenenleben. Rays Mutter (sie hieß Bethany, aber Ray hatte sie nie anders als Mutter genannt) hatte ihn im großen Ford der Familie zur Schule gefahren, ein Auto, wie man es heutzutage gar nicht mehr zu sehen bekam, von einem jener Motoren durch eine Kombination aus Biodieselkraftstoff und wiederaufladbaren Zellen angetrieben, die nach dem Saudi-Konflikt allgemein gebräuchlich geworden waren, ein patriotischer Wagen also, in dem er sich immer voller Stolz gezeigt hatte. Das Auto war leuchtend rot, wie Ray sich erinnerte, rot wie ein begehrenswertes neues Spielzeug, teflonglatt und emailglänzend. Ray war zehn und sehr an Farben und Texturen interessiert. Seine Mutter hatte ihn also mit dem Auto zur Schule gebracht, er war hinausgehüpft und schon fast am Schulhofzaun angelangt (Schnappschuss: Baden Academy, eine private Grundschule in einem von Bäumen gesäumten Chicagoer Randbezirk, ein modisch altmodisches gelbes Backsteingebäude, das in der Wärme des Septembermorgens schlummerte), als er sich umdrehte, um zum Abschied zu winken (die Hand schon erhoben, im Ohr das Geschrei von Kinderstimmen und das Hochspannungszirpen der Zikaden), gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie ein in Gegenrichtung durch die Duchesne Street fahrender Transporter der Mobilen Krankenversorgung Modesto & Fuchs – geklaut, wie er später erfuhr, von einem Oxycontin-Abhängigen, der sich Zugang zu den an Bord befindlichen Narkotika verschaffen wollte – aus der Spur schleuderte und genau in die Seite des leuchtend roten Fords krachte.
Der patriotische Ford steckte den Aufprall recht gut weg, aber Rays Mutter hatte den Laster kommen sehen und unklugerweise versucht, das Auto zu verlassen. Der Modesto-&-Fuchs-Laster hatte sie zwischen Tür und Rahmen gequetscht und war dann mehrere Meter zurückgeprallt, während Bethany Scutter auf der Straße lag, ihr Unterleib geöffnet wie die Mittelseiten eines roten und blauen Buches.
Ray, der dies vom Olymp des einsetzenden Schocks aus beobachtet hatte, stellte gewisse Betrachtungen über das Allgemein-Menschliche an, die ihn Zeit seines Lebens begleiten sollten. Menschen waren, ebenso wie ihre Versprechungen, zerbrechlich und unverlässlich. Menschen waren Beutel, gefüllt mit Gas und Flüssigkeiten, die eine Maskerade aufführten, um bestimmte Rollen zu bekleiden (Elternteil, Lehrer, Therapeut, Ehefrau), jedoch jederzeit in ihren Naturzustand zurückfallen konnten. Der Naturzustand biologischer Materie aber war es, zermalmt und totgefahren auf der Straße zu liegen.
Ray blieb der Baden Academy ein Jahr lang fern und erhielt während dieser Zeit, auf Veranlassung seines Vaters, jede pharmazeutische und metaphysische Medizin gegen Melancholie, die in den besseren Kliniken angeboten wurde. Seine Genesung verlief zügig. Eine Neigung für die Mathematik hatte er schon seit Längerem gezeigt, und nun versenkte er sich auch in die anorganischen Wissenschaften – die Astronomie und später die Astrophysik, bei denen die Dimensionen von Zeit und Raum groß genug waren, um angenehme Perspektiven zu gewährleisten. Als nachgewiesen wurde, dass es kein Leben auf dem Mars und auf Europa gab, war ihm das eine heimliche Genugtuung gewesen: Wie viel beunruhigender war doch die Vorstellung, sie wären mit Biologie durchwuchert, verdorben wie eine Kiste Weihnachtsapfelsinen, die irgendwo in einer Kellerecke verschimmeln.
Silbergraue Frostfinger zogen in Kaskaden an den Fenstern der O/BEK-Galerie hinauf, dämpften das Licht noch mehr, fanden sich zu Formen zusammen, die an Säulen und Bögen erinnerten. Ray kam zu dem Schluss, dass er Tess diese Geschichte nicht hätte erzählen sollen. Sofern er es denn überhaupt getan hatte. In seiner Verwirrung kam es ihm so vor, als hätte sie ihm die Geschichte erzählt.
»Du hast Unrecht«, sagte Tess. »Sie ist nicht gestorben, um dich dazu zu bringen, sie zu hassen.«
Seine Augen weiteten sich.
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