Quarantaene
Pfarrhaus gelebt, einem siebzig Jahre alten Gebäude mit Holzveranda, in einem Vorort von Cincinnati, einer reinen Schlafsiedlung mit Bahnanschluss), über ihre Arbeit, über Tess; weniger oft und eher zögerlich über ihre Ehe. Ihr bis dahin recht behütetes Leben hatte sie in keiner Weise auf einen Mann wie Ray vorbereitet, der ihr zwar seine Liebe beteuert hatte, der aber in Wirklichkeit nur sein Leben – um der Konvention zu entsprechen – mit einer Frau ausstaffieren wollte, und für den Grausamkeit die letzte Zuflucht der Sexualität war. Solche Männer gab es zwar reichlich auf der Welt, aber Marguerite war vorher nie einem begegnet. Was folgte, war ein neunjähriger Albtraum verspäteter Aufklärung.
Und was sah sie in Chris? Nicht unbedingt den Anti-Ray, aber vielleicht eine gutartigere Version von Männlichkeit, jemanden, dem sie sich anvertrauen, an den sie sich anlehnen konnte, ohne Furcht vor Vergeltung. Diese Sicht auf seine Person schmeichelte ihm, aber sie war naiv. Nicht dass er liebesunfähig gewesen wäre. Er hatte seine Arbeit geliebt, er hatte seine Familie geliebt, er hatte seine Schwester Portia geliebt, aber alles, was er liebte, war ihm tendenziell in den Händen zerbrochen, zerstört durch sein ungeschicktes Bemühen, es zu beschützen.
Er würde sie niemals so verletzen, wie Ray es getan hatte, aber auf die Dauer mochte er sich als ähnlich gefährlich für sie erweisen.
Tess hatte ihm gesagt, wo das beste Rodelgebiet war, bei den niedrigen Hügeln einen halben Kilometer hinter Eyeball Alley, wo die Zufahrtsstraße in einer gepflasterten Sackgasse endete. Die Kühltürme der Alley erhoben sich links von der Straße, dunkle Wächter in einer weißen Landschaft. Wieder brach Tess das Schweigen: »Hatte Portia Probleme in der Schule?«
»Klar. Die hat doch jeder, hin und wieder.«
»Ich hasse den Sportunterricht.«
»Ich bin nie am Seil hochgekommen«, gestand Chris.
»Seilklettern machen wir noch nicht. Aber wir müssen so bescheuerte Sportklamotten tragen. Hatte Portia je Albträume?«
»Manchmal.«
»Was waren das für welche?«
»Tja – sie hat nicht gern darüber geredet, Tess, und ich habe versprochen, sie nicht weiterzuerzählen.«
Tess sah ihn prüfend an. Sie überlegte, ob sie ihm vertrauen konnte, dachte Chris. Tess teilte ihr Vertrauen mit Zurückhaltung aus. Das Leben hatte sie gelehrt, dass nicht jeder Erwachsene vertrauenswürdig war – eine bittere Lektion, aber nützlich und hilfreich.
Doch wenn er Portias Geheimnisse nach so langer Zeit noch bewahrte, dann würde er vielleicht auch Tessas bewahren. »Hat meine Mama dir von Mirror Girl erzählt?«
»Nö. Wer ist Mirror Girl?«
»Das ist das, was mit mir nicht stimmt.« Ein weiterer Blick von der Seite. »Du wusstest, dass irgendwas mit mir nicht stimmt, oder?«
»Ich hab mich schon ein bisschen gewundert an dem Abend, als wir in die Ambulanz mussten.«
»Ich sehe sie in Spiegeln. Deswegen nenne ich sie Mirror Girl.« Sie machte eine Pause. »An dem Abend hab ich sie im Fenster gesehen. Sie hat mich total überrascht. Da bin ich wohl wütend geworden.«
Chris spürte die Gewichtigkeit des Geständnisses. Er fühlte sich geschmeichelt. Tess war von ganz allein darauf zu sprechen gekommen. Er nahm den Fuß ein wenig vom Gaspedal, um die Fahrt zu strecken.
»Sie sieht aus wie ich, aber sie ist nicht ich. Das ist es, was keiner versteht. Also, was glaubst du? Bin ich verrückt?«
»Du machst auf mich keinen verrückten Eindruck.«
»Ich rede nicht darüber, weil die Leute glauben, dass ich einen an der Waffel habe. Hab ich ja vielleicht.«
»Es passieren nun mal Dinge, die wir nicht verstehen. Das heißt nicht, dass du einen an der Waffel hast.«
»Wieso kann niemand sonst sie sehen?«
»Ich weiß es nicht. Was will sie denn?«
Tess zuckte gereizt die Achseln. Offenbar eine Frage, die ihr schon allzu oft gestellt worden war. »Das sagt sie nicht.«
»Spricht sie?«
»Nicht mit Worten. Ich glaube, sie will einfach, dass ich aufmerksam bin, auf Sachen achte. Ich glaube, sie kann nicht aufmerksam sein, wenn ich nicht aufmerksam bin – ergibt das irgendeinen Sinn? Aber das hab ich mir nur so zurechtgelegt. Es ist bloß eine Theorie.«
»Portia hat manchmal mit ihren Spielsachen gesprochen.«
»So ist es nicht. Das ist ja Kinderkram.« Sie verdrehte die Augen, » Edie Jerundt spricht mit ihren Spielsachen.«
Lieber nicht weiter drängen. Es war genug, dass Tess sich ihm überhaupt anvertraut hatte. Er
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