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Quarantaene

Quarantaene

Titel: Quarantaene Kostenlos Bücher Online Lesen
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dünnen äußeren Hülle steckte aber natürlich ein narzisstisches Kind, das unter allen Umständen seinen Willen durchsetzen wollte. Keiner dieser Aspekte seiner Persönlichkeit war sonderlich anziehend.
    »Hör mal«, sagte sie, »das ist doch lächerlich. Was immer Tess fehlen mag, es wird nicht dadurch besser, dass du hier ankommst und mich beleidigst.«
    »Mich interessiert deine Meinung zu diesem Thema nicht die Bohne.«
    Ohne zu überlegen, machte Marguerite zwei Schritte und verpasste ihm eine Ohrfeige. So etwas hatte sie noch nie getan. Ihr Handteller tat sofort weh, und so flüchtig dieser körperliche Kontakt auch gewesen war, hatte sie doch den dringenden Wunsch (die Rauheit seiner unrasierten Gesichtshaut, seine schlaffen Kinnbacken), sich die schmerzende Hand zu waschen. Schlechter Zug, dachte sie, sehr schlechter Zug. Aber sie konnte nicht umhin, Rays Verblüffung mit einem gewissen Stolz zu vermerken.
    Als kleines Mädchen hatte Marguerite oft mit einem Jungen aus der Nachbarschaft gespielt, dessen Familie einen sanften und ausgesprochen langmütigen Springerspaniel besaß. Der Junge (der zufälligerweise ebenfalls Raymond hieß) hatte einmal eine Stunde lang versucht, auf dem Hund zu reiten wie auf einem Pferd, und über das Gejaule des armen Tiers nur gelacht, bis der Hund schließlich genug hatte und ihm ein Stück vom rechten Daumen abbiss. Der Junge hatte genauso dreingeschaut wie Ray jetzt: fassungslos und den Tränen nahe. Für einen Moment fragte sie sich, ob Ray tatsächlich anfangen würde zu weinen.
    Aber sein Gesicht nahm schon wieder den vertrauten Ausdruck an. Er stand auf.
    Ach du Scheiße, dachte Marguerite. Scheiße, Scheiße, Scheiße!
    Sie zog sich in den Flur zurück. Ray legte seine Hände auf ihre Schultern und drückte sie gegen die Wand. Jetzt war es an ihr, überrascht zu sein.
    »Du kapierst es einfach nicht, wie? Wie es in dem Lied heißt, Marguerite, du bist nicht mehr in Kansas.«
    Es war ein Film, kein Lied. Und zwar einer von Marguerites Lieblingsfilmen. Ray wusste das natürlich nicht.
    Er nahm ihr Kinn zwischen Daumen und Zeigefinger. »Ich sollte dir nicht erst erklären müssen, wie weit wir alle inzwischen entfernt sind von dieser kleinen Spießerwelt der Scheidungsanwälte und Sozialarbeiter, in der du noch immer zu leben glaubst. Was glaubst du, warum Blind Lake unter Quarantäne steht? Quarantänen werden wegen Krankheiten verhängt, Marguerite. So einfach ist das. Eine ansteckende, tödliche Krankheit. Wir leben unter stillschweigender Duldung, aber wie lange wird diese Duldung noch dauern?«
    Es könnte jederzeit zu Ende gehen.
    Ray schob sein Gesicht dicht an ihres heran. Sein Atem roch nach Azeton. Sie versuchte sich wegzudrehen, aber er ließ es nicht zu.
    »Heute in einem Monat können wir alle tot sein. Wir könnten schon morgen tot sein. Warum soll ich, unter dieser Voraussetzung, zusehen, wie du Tess wegen dieser Missgeburt auf dem Bildschirm vernachlässigst oder, schlimmer noch, wegen deinem neuen Freund?«
    »Was redest du?« Sie sprach gegen den Druck seiner Finger auf ihrem Kinn an. Es klang so, als wüsste er etwas, als hätte er Kenntnis von einem Geheimnis. Seit eh und je hatte es Ray gefallen, etwas zu wissen, das Marguerite nicht wusste. Der Spaß daran war fast so groß wie die Abneigung dagegen, Unrecht zu haben.
    Er gab ihr einen letzten Stoß – sozusagen der Form halber –, sodass ihre Schulter wieder gegen die verputzte Wand schrammte, dann trat er zurück. »Du bist so scheißnaiv«, sagte er.
    Was Ray nicht bemerkte, war die hünenhafte Gestalt Chris Carmodys, der von der Treppe aus durch den Flur geschlichen kam. Marguerite sah ihn, wandte aber schnell den Blick ab, damit Ray keinen Verdacht schöpfte. Lass es geschehen. Für einen Mann seiner Größe bewegte sich Chris erstaunlich geräuschlos.
    Chris schob sich zwischen sie und Ray und drückte den überaus erschrockenen Ray rückwärts an die gegenüberliegende Wand, und zwar alles andere als sanft. Marguerite bekam es mit der Angst zu tun – es lag echte Männergewalt in der Luft, man konnte es geradezu riechen, ein Gestank wie in einer Umkleidekabine –, aber es erfüllte sie mit Genugtuung, Rays gehässigen Gesichtsausdruck sich in ein ungläubiges »Oh« verwandeln zu sehen. Seit vielen Jahren hatte sie sich gewünscht, das einmal erleben zu dürfen. Es war berauschend.
    »Haben Sie«, stammelte Ray, als er eine Einschätzung der Lage vorgenommen hatte, »haben Sie mich

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