Quarantaene
winterlichen Dämmerung nicht gut zu sehen, ein schwarzer, sich vom dunklen Asphalt und dem Schatten der Weide kaum abzeichnender Umriss, aber sie wusste, dass es Rays Auto war.
Achtzehn
»Bleib im Auto«, sagte sie zu Chris. »Lass mich mit ihm reden.«
»Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist.«
»Ich habe fünf Jahre mit ihm zusammengelebt. Ich weiß, wie das geht.«
»Marguerite, er hat eine Grenze überschritten. Falls du ihm keinen Schlüssel gegeben hast, ist er in dein Haus eingebrochen.«
»Er muss Tessas Schlüssel benutzt haben. Vielleicht ist sie auch da.«
»Der Punkt ist doch aber: Wenn jemand die Regeln so krass verletzt, dann wird es ernst. Du könntest zu Schaden kommen.«
»Du kennst ihn nicht. Gib mir einfach ein paar Minuten Zeit, okay? Wenn ich dich brauche, schreie ich.«
Nicht lustig, musste sie sich selber sagen. Chris fand es offensichtlich auch nicht lustig. Sie legte ihm eine Hand aufs Knie. »Fünf Minuten, in Ordnung?«
»Du sagst, ich soll im Auto bleiben?«
»Bleib im Auto sitzen oder geh einmal um den Block, was du willst, aber es wird leichter sein, ihn loszuwerden, wenn du nicht da bist und ihn in Rage bringst.«
Sie wartete seine Antwort nicht ab, stieg aus dem Auto und ging entschlossen zur Eingangstür ihres Hauses, eher wütend als ängstlich. Ray, dieser Arsch. Chris begriff nicht, wie Ray funktionierte. Ray war nicht hier, um sie zu verprügeln. Ray benutzte andere Mittel, um Menschen zu demütigen.
Im Haus – die Wohnzimmerlichter waren alle an – rief sie Tessas Namen. Falls Ray Tessa mitgebracht hatte, mochte es eine Rechtfertigung für diese Veranstaltung geben.
Aber Tess antwortete nicht. Ebenso wenig wie Ray. Aufgebracht sah sie in der Küche nach, im Esszimmer. Alles leer. Dann musste er also oben sein. Die Lampen brannten in jedem Zimmer des Hauses.
Sie fand ihn in ihrem Arbeitszimmer. Ray saß auf ihrem Drehsessel, die Füße auf die Schreibtischplatte gelegt, und sah dem Subjekt zu, wie es, von der Mittagssonne beschienen, einen wasserlosen Graben überquerte. Er blickte beiläufig auf, als sie sich räusperte. »Ah«, sagte er. »Da bist du ja.«
Im diffusen Licht des Wandbildschirms sah Ray wie ein kinnloser Napoleon aus, auf alberne Weise gebieterisch. »Ray«, sagte sie fest, »ist Tess im Haus?«
»Ganz bestimmt nicht. Und eben darüber müssen wir reden. Tessa hat mir ein bisschen was erzählt von dem, was hier abgeht.«
»Fang gar nicht erst an. Ich will es nicht hören, absolut nicht. Geh einfach wieder, Ray. Das hier ist nicht dein Haus und du hast kein Recht, hier zu sein.«
»Bevor wir anfangen, über Rechte zu reden, ist dir klar, dass deine Tochter fast eine Stunde lang allein im Schnee zubringen musste, während dein Liebhaber den Helden gespielt hat letzte Woche? Sie kann von Glück reden, dass sie keine Frostbeulen bekommen hat.«
»Wir können ein andermal darüber sprechen. Geh jetzt, Raymond.«
»Komm schon, Marguerite, spar dir den Quatsch von wegen ›mein Haus, meine Rechte‹. Wir wissen beide, dass du Tess systematisch vernachlässigst hast. Wir wissen beide, dass sie als Folge davon ernsthafte psychologische Probleme hat.«
»Ich lass mich nicht auf Diskussionen mit dir ein.«
»Ich bin verdammt noch mal nicht hier, um darüber zu diskutieren. Ich sag dir einfach, was passiert. Ich kann nicht guten Gewissens zulassen, dass meine Tochter weiterhin bei dir wohnt, wenn du nicht gewillt bist, dich vernünftig um sie zu kümmern.«
»Ray, wir haben eine Vereinbarung …«
»Wir haben eine vorläufige Vereinbarung, die unter völlig anderen Umständen zustande gekommen ist. Wenn ich könnte, würde ich gerichtlich dagegen vorgehen, das kannst du mir glauben. Aber wegen der Abriegelung ist das nicht möglich. Also muss ich tun, was ich für das Richtige halte.«
»Du kannst sie nicht einfach behalten«, sagte Marguerite. Was aber, wenn er es darauf ankommen ließ? Wenn er sich weigerte, Tess nach Hause kommen zu lassen. Es gab kein Familiengericht in Blind Lake, keine echte Polizei, die sie zu Hilfe würde rufen können.
»Du kannst mir nichts vorschreiben. Tess ist in meiner Obhut, und ich muss die Maßnahmen treffen, die nach meinem Dafürhalten für sie am besten sind.«
Es war seine arrogante, ölige Gewissheit, die sie auf die Palme brachte. Ray beherrschte die Kunst, so zu sprechen, als sei er der einzige Erwachsene auf dem Planeten und alle anderen seien schwach, dumm oder anmaßend. Unter dieser
Weitere Kostenlose Bücher