Quasikristalle: Roman (German Edition)
sie Emmy in ihrem Bauch.
Krass, sagte Viola.
Wahrscheinlich wollte dein Vater vor allem euch beide schützen, sagte Lisa und lächelte munter, man darf ihm da auf keinen Fall Vorwürfe machen.
Moment mal, widersprach Viola, er muss doch wissen, dass er damals Mist gebaut hat!
Viola, Schätzchen, sagte Lisa und trommelte ihr mit den Fingerspitzen aufs Knie, wir sollten diese alten Sachen nicht aufwärmen.
Aber wenn er sich besser um dich gekümmert hätte, sagte Viola und fühlte überrascht, dass ihr die Tränen kamen, hättest du bestimmt nicht weglaufen müssen.
Ich geh jetzt erst einmal eine rauchen, sagte Lisa, rappelte sich auf und ging hinaus.
Als sie zurückkam, begann sie Xane zu loben. Sie sprach so anerkennend über sie – nicht jeder würde sich so engagiert um zwei fremde Kinder kümmern, sie beinahe wie die eigenen annehmen, das habe ihr, Lisa, später einiges erleichtert, denn die Oma allein hätte das bestimmt nicht geschafft –, dass Viola einfach widersprechen musste.
Lisa sollte schon wissen, was für eine intolerante Zicke Xane sein konnte! Wie sie Stress machte wegen jeder Kleinigkeit, wegen jedes stehengelassenen Tellers und wegen der benutzten Kaffeelöffel, die Papa allerdings wirklich überall hinlegte – Lisa lachte und nickte. Wie Xane immer meckerte, weil Viola angeblich mit Schuhen ins Bad ging, angeblich zu viel Shampoo benutzte und so weiter. Wie sie jedes Mal wie bekloppt hinter einem herrannte, wenn eine Tür etwas fester zufiel. Das war meistens gar keine Absicht! Sie regte sich auf, wenn der Radiosender in der Küche verstellt war, dabei konnte man umgekehrt genauso gut sagen, dass StarFM die Grundeinstellung war, die sie mit ihrem blöden Nachrichtensender dauernd verstellte.
Nur weil sie ab und zu kocht, hat sie mehr Rechte, hä?
Sie kontrollierte mit einer Küchenuhr, wie lange man am Computer saß, dabei saß sie selbst dauernd davor. Papa auch, doch der war weniger zu Hause. Mit einer Küchenuhr, Lisa! Wie krank ist das denn?! Wenn es klingelte, musste man aufhören oder sie legte den Router lahm. Dauernd beklagte sie sich, dass sie die Einzige sei, die etwas im Haushalt mache, die Wäsche, das Einkaufen und Kochen und Putzen, dabei hatten sie eine Putzfrau, und zu kochen schaffte sie sowieso nur noch am Wochenende. Der Einzige, der, außer ihr, nie etwas falsch machte, war Amos. Viola, bitte, er ist doch erst fünf!
Du wirst erwachsen, sagte Lisa lächelnd, da reibt man sich, das ist normal. Hauptsache, Moritz ist mit ihr glücklich.
Sie betrügt ihn, rief Viola.
Was, fragte Lisa und beugte sich vor, als hätte sie sich verhört.
Es war der Tag, an dem Frau Liefers sie zum Gespräch dabehielt, in der großen Pause. Was sie ihr sagte, war ernst, aber sie vergaß es sofort. Alles, was danach kam, überlagerte Frau Liefers’ Worte, die so verständnisvoll waren, dass man schon deshalb hätte kotzen können. Hätten sie gebrüllt und gemeckert, diese Lehrer, das wäre ehrlicher gewesen. Immer so kuschelweich, und trotzdem warnen und drohen, mit dem Verweis, mit der Elternvorladung, mit der Disziplinarkommission. Viola rannte die Treppen hinunter, Richtung Schulhof, sie sah Alex doch nur in diesen zwanzig Minuten, die die Liefers gerade lässig halbiert hatte. Sie unternahmen nicht täglich etwas, höchstens einmal in der Woche. Er sagte es ihr meistens auf dem Hof. Sie waren noch einmal im Park gewesen, mit Küssen, ein weiteres Mal im Kino und an einem Samstag mit der Clique in einem großen Einkaufszentrum im Süden. Letzteres ohne Küssen. Viola hoffte von einem Tag zum nächsten. Dabei war es schwierig für sie, sich spontan zu verabreden. Papa und Xane wollten das nicht. Verabredungen sollten geplant sein und nicht am selben Tag erfolgen; das war eine der beliebten Regeln. Deshalb kündigte Viola dauernd Besuche bei Freundinnen an, die sehr häufig mit vagen Begründungen wieder abgesagt wurden. Kim war heute nicht in der Schule, angeblich hat sie die Darmgrippe, iih. Siri muss heute Nachmittag zum Orthopäden, sie hat sich im Tag geirrt, wahrscheinlich gehe ich stattdessen morgen oder übermorgen zu ihr. Zum Glück waren Xane und Papa sehr beschäftigt und daher unaufmerksam. Denn Violas Angaben passten oft hinten und vorne nicht zusammen. Einmal, als Xane bemerkte, wie sie sich verhedderte, sagte sie nur: Teilamnesie. Pubertätsdemenz. Diese armen Kinder. Mor, waren wir wirklich genauso?
Mit dem Geld war Viola inzwischen knapp. Die Kinokarten, das Essen.
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