Quasikristalle: Roman (German Edition)
wollte sie wegziehen, komm lieber, bevor sie dich sieht. Doch Xane sah nichts, die war völlig weggetreten. Sie kam Viola geradewegs entgegen, trug ihre frisch geküsste Hand voran wie ein Tablett, ging an ihr vorbei, der Bus stand noch da, sie stieg ein, die Türen schlossen sich. Viola schüttelte mit zusammengekniffenen Augen den Kopf, schüttelte dieses peinliche Rätsel erst einmal von sich ab, dann gingen sie alle zu McDonald’s und machten dort eine Menge Lärm.
Eigentlich hatte sie Lisa mit Verweigerung strafen wollen. Auf eine Mutter, die erst für Jahre verschwunden war und dann ihr Handy tagelang nicht checkte, konnte man ja wohl verzichten. Als sie sich endlich meldete, nahm Viola die Einladung zum Essen trotzdem an, aus Erleichterung, Neugier und um ihre Eltern zu ärgern. Die hatten gerade ein Ausgehverbot von einer Woche verhängt, nachdem der Bio-Arsch angerufen und die fehlende Entschuldigung eingeklagt hatte. Wo warst du, hatte Xane mit verzerrtem Gesicht geschrien, sag wenigstens ein einziges Mal die Wahrheit. Die Wahrheit, die Viola ihr hätte sagen sollen, war, dass sie noch mehr Falten kriegen würde, wenn sie dauernd so schrie, aber sie hatte nur die Schultern gezuckt und irgendetwas von Chillen am Ku’damm gemurmelt. Dass sie auf diese Weise für ein Treffen mit ihrer richtigen Mutter bestraft wurde, ärgerte sie. Sie wusste nicht genau, warum sie es nicht einfach sagte. Allerdings konnte sie sich den Dialog gut vorstellen.
Papa: Warum hast du ihr nicht gesagt, dass du noch Schule hast? Ihr hättet euch doch später treffen können?
Xane: Die hat doch eh nichts zu tun.
Viola: Weiß nicht.
Xane: Mein Gott, sie weiß es nicht. Was weiß sie eigentlich?
Morgen Abend bin ich zum Essen eingeladen, sagte Viola. Sie lächelte Papa an. Ich glaube, wir haben uns klar ausgedrückt, dass du diese Woche, fing Xane an, wieder mit diesem hysterischen Unterton. Sie war dauergeladen, in letzter Zeit. Viola stellte ihr Glas mit einem Knall hin und wandte sich ihr zu, zum ersten Mal seit Wochen. Den eigenen Blick konnte man einsetzen wie eine Waffe, das lernte sie gerade von anderen, zum Beispiel von Theo. Wochenlang hatte sie Xane nur von der Seite angeblinzelt, aber auch ein offener Blick war nicht gleichbedeutend mit Frieden. Jetzt nahm sie Xane voll in ihr kaltes, blaues Licht. Das wirkte; Xane sah überrascht aus.
Meine Mutter hat mich zum Abendessen eingeladen, sagte Viola und betonte dabei jede Silbe, das kannst du mir ja wohl schlecht verbieten.
Na wenn das so ist, flüsterte Xane, wischte mit einer Serviette in ihrem Gesicht herum, sprang auf und lief mitten im Essen hinaus.
Sie saßen auf dem Boden, auf orientalischen Kissen, der Tisch nicht höher als halbe Wade. Viola beobachtete, wie Lisa das Brot zusammenklappte und als Löffel benutzte. Das Essen war scharf. Man konnte Joghurt unterrühren, das machte es leichter.
Lisa freute sich, dass es mit Alex so gut lief. Sie wollte ein Foto sehen, Viola hatte leider keines. Auf seiner Facebook-Seite hatte Alex ein Porträt von Dagobert Duck. Sie alberten herum, wie sie unauffällig eines machen könnten. Ihn fragen war zu peinlich. Lisa verstand das. Lisa phantasierte, dass sie sich mit einem Teleobjektiv an den Schulzaun stellte; vielleicht könnte man ein schönes Bild von ihnen beiden machen?
Und ob Viola ihr diese tolle Musik überspielen könnte? Viola nickte. Sie erzählte Lisa, dass Oma Emmy mit ihr verwechselt hatte.
Sieht sie mir so ähnlich, fragte Lisa. Ich finde, eigentlich nicht, sagte Viola. – Lisa, wieso hast du dich so lange nicht gemeldet?
Ja, sagte Lisa und lehnte sich zurück. Sie sah Viola an. Die Wahrheit war, Lisa war sehr lange krank gewesen. Psychisch krank, verstehst du. Das ist im Grunde auch nur eine Krankheit wie Lungenentzündung oder Scharlach, falsche chemische Prozesse im Gehirn, dagegen gibt es Medizin.
Das hatte Papa nie erwähnt.
Aus dem, was sie erzählte, gewann Viola den Eindruck, dass Papa nie verstanden hatte, wie schlecht es ihrer Mutter gegangen war. Hatte er überhaupt begriffen, dass sie krank war? Ob er damals schon so geistesabwesend gewesen war, in Gedanken immer in der nächsten Vorlesung oder bei der kommenden Tagung? Lisa erzählte von der Parkbank, bei der sie sich neulich getroffen hatten. Auf genau dieser Bank habe sie einmal auf Papa gewartet, im Winter. Er habe sich verspätet, und sie sei eingeschlafen. Als Passanten sie fanden, war sie fast erfroren, sie beide, denn damals hatte
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