Quasikristalle: Roman (German Edition)
ungünstigen Jobwechsel unmöglich noch eine Gehaltsminderung hatte verkaufen können, erkannte er, wie anders andere die Sache sahen. Als er durch das Colloredo-Building ging, um sich von seinen bisherigen Kollegen zu verabschieden, gab es merkwürdige Kommentare.
Unser Kummer geht zu den Idealisten, sagte ein Witzbold in der Grafik, dort soll er bleiben, dort gehört er hin.
Wie meinst’n das, fragte Martin.
Nur ein Wortspiel, lachte der Grafiker, bald bewerbe ich mich als Texter. Und machen sich die Idealisten nicht wirklich mehr Sorgen als andere?
ROX, fragte eines der durchscheinenden Mädchen in der Produktion, die mit ernsten Gesichtern den ganzen Tag Bücher voller Stoffmuster wälzten: Das wäre mir zu eng.
Zu eng, fragte Martin zurück, während du hier Jahr für Jahr unsere Lampenschirme den neuen Schnitten und Farben anpasst?
Die Kleine, die einer intelligenten Maus ähnelte, sah ihn nachdenklich an.
Ich meine, sagte sie, weltanschaulich zu eng. Wenn ich Lust habe, entwerfe ich morgen Saftpäckchen, ohne jedes schlechte Gewissen.
Martin gab ihr die Hand und wünschte ihr viel Erfolg, ob mit Lampenschirmen oder Saftpäckchen. Das konnte er sich nicht verkneifen. Als er hinausging, sagte sie hinter ihm, wahrscheinlich eher zu sich selbst: Ich fand es schwer genug, mich von meinen Eltern zu lösen.
Und damals hatte er im Flur noch blöd gegrinst, weil ihm nicht in den Kopf wollte, was das damit zu tun haben sollte.
Martin verstand sich selbst nicht als Teil dieser, nun ja, Protestkultur. Er war ja kein stoppelbärtiger Oskar Topic, zu dessen Machtinsignien eine allzeit kräftige Alkoholfahne gehörte, weil ihn das, jedenfalls unter Österreichern, als Kreativgenie beglaubigte. Topic erschien in der Agentur, oder er erschien tagelang nicht. Das war so ungewiss wie das Wetter. Wenn man ihn brauchte, war er bestimmt nicht da, aber wenn er abends den Flur entlanglief, alle Türen aufriss und Konfereeenz schrie, konnte man sicher sein, dass er etwas ausgeheckt hatte.
Martin hatte Topics Kreativexplosionen von Anfang an nicht so genial gefunden wie die anderen, allen voran Frau Molin. Aber in den Jahren bei Colloredo hatte er vieles gelernt. Man preschte nicht vor, schon gar nicht als Neuer. Man ließ sich Zeit. Eventuell tauchten später, bei der Umsetzung, ohnehin Details auf, die den Sachzwängen angepasst werden mussten. Man konnte beim nächsten Mal, darauf Bezug nehmend, ein wenig gegensteuern. Der schlichte Satz Ich gebe nur zu bedenken war diplomatisch und defensiv. Dass diese Österreicher andere, gröbere Sitten hatten, hatte Martin gleich beim ersten Versuch erlebt.
Jöö, ein Bedenkenträger, grölte Topic, die anderen lachten, aber Martin lächelte nur höflich, hob entschuldigend die Schultern und wartete ab.
Nein, Martin hatte beileibe nicht nur deshalb für ROX arbeiten wollen, weil ihm deren Arbeit weltanschaulich näherstand. Überhaupt, was hieß schon Weltanschauung. Er war schließlich kein Idealist! War das inzwischen ein Schimpfwort? Vielleicht hatte es diese Grundsympathie gegeben, eine gewisse innere Neigung, so wie er bis heute Independent-Bands hörte, und ein bisschen Klassik, bevorzugt des frühen zwanzigsten Jahrhunderts, auf jeden Fall keinen Charts-Schrott. Aber das war nicht alles gewesen. Martin war vielmehr zu der Überzeugung gelangt, dass die frischen Potenziale seiner Branche genau hier steckten, bei den Widerständlern, den Verrückten und Verweigerern. Hier lag das Gold der Zukunft, und jemand musste es behutsam heben.
Klar, diese Leute hatten mächtige Gegner, die optisch und dynamisch gleichgeschalteten Player, die den Ton angaben, Konzerne, Marken, Banken. Aber das machte die kleinen Kläffer interessanterweise nicht eng. Im Gegenteil: Gerade weil der Gegner unbesiegbar schien, konnten sie alles denken und für möglich halten. Die jüngere Vergangenheit gab in Wahrheit ihnen recht; die vernichteten Banken, die gesundgeschrumpfte EU, die beiden großen Währungen, die es nicht mehr gab. Nichts davon hatte man für möglich gehalten, und es war trotzdem geschehen. Und genau deshalb hatte so ein Suffkopp von Topic mehr Selbstbewusstsein als drei Gucci-Art-Directors zusammen, die jederzeit fürchten mussten, gefeuert zu werden, bloß weil sich die Ehefrau mit einer Sonnenbrille aus der letzten Saison hatte sehen lassen.
Martin hielt es für wichtig, die eigenen Schwächen zu kennen. Er wusste, dass er selbst kein waschechter Kreativer war, obwohl er bei
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