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Quasikristalle: Roman (German Edition)

Quasikristalle: Roman (German Edition)

Titel: Quasikristalle: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Menasse
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Colloredo an der Schnittstelle zwischen Produktion und Marketing gearbeitet hatte. Das, worüber er in hohem Maß verfügte, nannte er sekundäre Phantasie. Sie war seine Stärke. Wenn man ihm gute Produkte oder Ideen für Kampagnen gab, konnte er sie nicht nur nach den üblichen Schemata präsentieren oder lancieren, nein, er wusste, dass er sie weiterentwickeln konnte. Schärfen, in unerwartete Richtungen drehen. Wenn es ideal lief, konnte er etwas ganz Neues, Besonderes machen, abseits ausgetretener Pfade.
    Heutzutage wusste zwar jeder Junior Assistant, dass, nur zum Beispiel, diese riesigen Handtaschen, die eine Zeitlang modern gewesen waren, viel mehr als Handtaschen waren, nämlich eine Art mobile Heimat, in der Frauen alles herumschleppten, was ihnen wichtig war. Diese Taschen waren die Freunde der Frauen. Aber war den Kollegen dabei eigentlich klar, wie viele unterschiedliche Bedeutungen allein der Begriff ›Freund‹ barg? Freunde mussten verlässlich sein, doch sie sollten auch spannend bleiben. Nur zum Beispiel. Also sollte man während des kreativen Prozesses irgendwann einmal daran gedacht haben, dass Taschen wahrscheinlich zu den ersten Gebrauchsgegenständen des Menschen gehört hatten. Weil Menschen keine Taschen eingebaut hatten, im Vergleich etwa zu Känguruhs. Schon daraus ließe sich etwas machen. Ein Känguruh war ein sehnig-attraktives und gleichzeitig, für seine Kinder, überaus kuscheliges Tier. Mächtig und warm, ein wahrer Freund. Entwerfen Sie mir eine Kampagne, die Känguruh-Gefühle weckt. Kommen Sie dabei, natürlich, ohne Känguruh aus – und trotzdem. Der ideelle Abdruck des Känguruhs, erzeugen Sie dieses Gefühl, strengen Sie sich an. So sprach der innere Martin manchmal zu den engagierten Assistenten, die er einmal haben würde.
    Bislang missverstanden Kollegen ihn oft. Denn das, worauf er mit seinen Überlegungen abzielte, ging in eine fundamental andere Richtung als all die consumer insights , für deren fragwürdige Beschaffung die Unternehmen Unsummen bezahlten und die sie umtanzten wie das Goldene Kalb.
    Consumer insights , das war doch nur die Fortsetzung der brancheneigenen Nabelschau. Martin wollte die Rückseiten in Betracht ziehen. Die Welt war auseinandergebrochen in einen giftig glitzernden und einen unerträglich armseligen, brutalen Teil. Aber dazwischen gab es noch Verbindungen, wenngleich schwache, wie einzelne Bretter oder handgeflochtene Hängebrücken. Wenn man das so sagte, klang man wie ein Weltverbesserer. Doch so meinte er das nicht. Er interessierte sich ästhetisch für diese Verbindungen, wann inszenierte Schönheit wieder hässlich wurde. Und umgekehrt: worin die manchmal atemberaubende Schönheit des Defekten oder Kranken lag, oder dieses Anrührende, das wütende Slumbewohner oder verfallene Industriestädte haben konnten. Aus diesen überlappenden Rändern etwas Neues schaffen, das war es, da wollte er hin.
    Und deshalb war er eines Tages auf ROX gekommen. Mit seinen Ideen und dem Kreativpotenzial dieser kleinen, aber höchst originellen Firma müsste es möglich sein, sich Schritt für Schritt seinen Traumjob zu erschaffen. Er würde diese Leute aus ihren ungelüfteten Anti-, Sponti-und Correctness-Ecken ein Stück weit herausholen, um ihre Talente für Größeres zu nutzen.
    Selbst Sabina konnte ihm darin nicht ganz folgen; das enttäuschte ihn manchmal. Trotzdem bewunderte sie ihn. Solange sie in der Kanzlei gearbeitet hatte, hatte sie mehr verdient als er. Du bist halt ein Intellektueller, sagte sie nach seinen engagierten Vorträgen, und er wedelte dann ungeduldig mit der Hand. Es gibt in allen Sparten die Denker und die Praktiker, beharrte Sabina, ich war immer eine Praktikerin. Das stimmt, dachte Martin, aber eine verdammt gute.
    Er fragte sich manchmal, ob Bewunderung, die auf Unverständnis gründete, als solche gelten konnte. Aber da er bald beweisen würde, wieviel in ihm steckte, war das egal.
    Für den Umgang mit Xane Molin hatte ihm von Anfang an das rechte Talent gefehlt. Früher war sie eine schöne Frau gewesen, doch war sie längst viel älter als auf den Fotos, die die Agentur bei Bedarf herausgab. Ihr schlampiges Vogelnest von Hochsteckfrisur war von grauen Strähnen durchzogen, und ihre klassischen Züge zerliefen sacht. Zu beobachten war die Teigigkeit mancher Frauen, bevor sie richtig alt werden.
    Zuerst war Martin, wie beinahe jeder, von ihr fasziniert. Nicht nur in der Agentur wandten sich alle, wenn sie sprachen, nach kurzer

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