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Quasikristalle: Roman (German Edition)

Quasikristalle: Roman (German Edition)

Titel: Quasikristalle: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Menasse
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Zeit hauptsächlich an sie. Als wäre sie die Sonne. Als müsste alles erst vor ihr bestehen, als trüge sie einen Zaubermantel, der sie als höherrangig auswies. Dabei gab sie sich nicht besonders dominant, jedenfalls nicht auf diese Weise, die sich manche Frauen eindeutig von Männern abschauen, wenn sie mit tiefergelegter Stimme laut werden oder via Schulterklopfen und zweiarmigem Händedruck Körperkontakt suchen.
    Ihre Waffe war ihr loses Maul. Anders als die meisten nahm sich Frau Molin das Recht, alles zu beurteilen und zu kommentieren. Darin fühlte sie sich völlig frei von Konventionen oder Höflichkeit. Ihr innerer Kompass war beneidenswert. Während andere schwankten, wie dies oder jenes zu bewerten sei, hatte sie Urteil und Begründung schon stichfest zur Hand. Ob das seriös war, war eine andere Frage. Vielleicht war es typisch österreichisch. Sie war flink mit Worten, sie war originell, und das konnte unangenehm sein, beinahe gefährlich. Meinungsstark ist ja nur, wer von Meinungsschwachen umgeben ist. Sie brachte die Mehrheit auf Kosten von ein oder zwei Bedauernswerten zum Lachen. Und die Menschen lachen gerne, da sind sie korrumpierbar. Aber während sie lachen, geben sie sich auf. Denn wer nicht erträgt, im selben Ausmaß verspottet zu werden wie der, über den er gerade selbst so lacht, muckt nie wieder auf.
    Martin hatte gelernt, auf der Hut zu sein. Dem Gruppenwitzeldruck zu widerstehen. Die Chefin und Topic wetzten ihre Mäuler an allem und jedem oder grinsten vielsagend, als gehörten sie einem Geheimbund an. Eine Wiener Humormafia. Man durfte nichts allzu ernst klingen lassen, denn eine andere Ernsthaftigkeit als ihre eigene hassten sie. Manchmal war es zum Verrücktwerden. Wie konnte man so arbeiten? Und was bedeutete dann eigentlich Kommunikation? Zwar hörte Frau Molin aufmerksam zu und erfasste die wesentlichen Fragen blitzschnell. Langweilte sie sich allerdings, wurde ihr Blick milchig, und irgendeine verbale Spitze drohte.
    Wie sie mit ihrem geliebten Topic wohl über ihn sprach? Er versuchte sich damit zu beruhigen, dass er zu unwichtig war, um kommentiert zu werden, zu unauffällig, loyal und diskret, um mit gnadenlosen Spitznamen belegt zu werden. Doch es funktionierte schlecht, und so richtig gefiel ihm seine Begründung nicht.
    Meistens fühlte er sich ihr gegenüber wie ein Schüler, gewogen und für zu leicht befunden. Vor allem, wenn sie ihn lobte. Kummer, das haben Sie gut gemacht, professionell und verlässlich – in seinen Ohren hatte ihr Lob einen pfeifenden Oberton, so als sollte er eventuell weniger verlässlich, weniger professionell sein. Martin fürchtete, dass er überempfindlich wurde. Dass er, wovor in all den Meet-your-expectations-und Self-improvement-Artikeln regelmäßig gewarnt wurde, sein Selbstwertgefühl ausschließlich aus der Response seiner Kollegen und Vorgesetzten bezog. Oder überhaupt nur aus dem, was er für deren Response hielt. Anstatt aus der Arbeit an sich, was sie ihm bedeutete, wie er selbst sie und sich bewertete. Und aus dem überwältigenden Rest seines Lebens, aus all dem, was er, Martin Kummer, alles geschafft hatte, seit er vor fünfunddreißig Jahren in beengten Emdener Verhältnissen zur Welt gekommen war. Deshalb erzählte er Sabina nur von Frau Molins Lob, nie von seinen Zweifeln daran.
    So war es zu dem Paradox gekommen, dass Martin sich am sichersten fühlte, wenn Topic dabei war. Zwar krachten sie oft mit den Geweihen gegeneinander und am Ende gewann der feiste Wiener, weil er ihm irgendein unvorhersehbares Schmäh-Bein stellte. Aber wenigstens war Martin seine Rolle klar. Als Anti-Topic, unzweideutig, auf den Punkt, mit nachvollziehbaren Argumenten und überprüfbaren Kriterien, gewaschen, rasiert, dezent deodoriert und sehr viel jünger. So hatte er von Anfang an seine Rolle bei ROX angelegt. Die anderen Kollegen waren ihm dafür dankbar; unter vier Augen beteuerten sie das. Öffentlich lehnte sich gegen Topic natürlich keiner auf.
    In Martins Bewerbungsgespräch hatte Frau Molin zwar gesagt, dass sie einen Professionalisierungsschub wahrlich gebrauchen könnten. Hatte sie ihn also nicht genau deshalb eingestellt? Um Topic zu entmachten? Hatte er da etwas falsch verstanden? Oder nur überbewertet? Wenn Martin ehrlich war, hatte sie ihm von Anfang an misstraut. Sie frage sich, ob er, Martin, sich mit seiner Bewerbung hier glücklich mache. In Wahrheit fragte sie natürlich ihn. Verstehen Sie, sagte sie zweifelnd, da, woher Sie

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