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Quasikristalle: Roman (German Edition)

Quasikristalle: Roman (German Edition)

Titel: Quasikristalle: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Menasse
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so tun, als handelten sie von ausgedachten Fällen: Wenn wir uns, nur zum Beispiel, einen achtzigjährigen Diabetiker mit einer Kreuzallergie vorstellen, …
    Shanti greift hinter den Vorhang und öffnet die Schiebetür. Barfuß geht sie auf die Terrasse und schaut. Eine alte Frau trägt ein Paket über den Platz, das groß ist, aber nicht schwer sein kann. Es könnte die Frau sein, der einmal im Supermarkt direkt neben ihr die Eier hinuntergefallen sind. Sie bot an, Shantis Tennisschuhe reinigen zu lassen. Das war das Gegenteil dessen, was man erwarten würde: Wennde im Weg stehst, blöde Zicke. Shanti hat fast beschämt abgelehnt. Ach, die tu ich in die Waschmaschine, hat sie gemurmelt. Vielleicht ist es auch eine andere Frau, die hier unten, mit dem Paket.
    Ansonsten ist nichts los. Für die Arbeitslosen und die Jugendlichen ist es noch zu früh, ebenso wie für den Parkraumsheriff, eine Blondine mit scharfen Nasolabialfalten, die sich meistens einiges anhören muss, weil sie ihre Arbeit ernst nimmt.
    Das Einfachste wäre, sich eine neue Nummer zu besorgen, das müsste in vier Stunden zu schaffen sein. Und wenn nicht, geht sie einfach so lange nicht ran, bis die neue Nummer freigeschaltet ist. Sie könnte Mama und die Schwestern anrufen und die anderen später informieren. Dann wäre sie die Sache los. Schließlich ist sie keine Ermittlerin, keine Detektivin, keine Kummernummer. Sie ist Journalistin, und sie nimmt sich für ihre Recherchen Zeit. Dieser Anrufer, Kevin, hat keine Zeit. Er behauptet, dass alles, was zu seinen Gunsten spricht, in den nächsten Stunden verschwunden sein kann. Und dass er, wenn diese Beweise nicht schnellstmöglich gesichert werden, wahrscheinlich für Jahre ins Gefängnis geht, auch dank Shantis Buch.
    Und das ist der moralische Haken, an dem sie hängt. Als ihr Buch vor fast eineinhalb Jahren erschien, war die öffentliche Reaktion überwältigend. Das schiere Ausmaß der Erregung, der Bestürzung und der Leitartikel, der Schwüre, Ermittlungskommissionen und Untersuchungsausschüsse hatte niemand vorhergesehen, weder sie noch ihr Lektor, auch keiner der Leute der ›Kritischen Plattform‹, von der sie bezahlt wird und auf der sie es veröffentlicht hat. Und es stimmt leider, dass es eine Art inquisitorische Gegenbewegung gibt, seit die ›begründete Vorsicht‹, zu der sie in ihrem Buch mehrmals eindringlich aufgerufen hat, immer öfter in Hysterie und Pauschalverdächtigungen umgeschlagen ist.
    Bisher hat Shanti sich geweigert, dazu in einem eigenen Artikel Stellung zu nehmen. Nachdem sie über zwei Jahre recherchiert und alles auf fast vierhundert Seiten ausgebreitet hat, muss sie, ihrer Meinung nach, nicht öffentlich statuieren, dass nicht jeder Tod in einem Alten-oder Pflegeheim Mord ist. Dass nicht jeder Angehörige, der seinen alten Vater, seine demente Frau oder den gelähmten Onkel aus dem Heim in häusliche Betreuung holt, dies in der Absicht tut, sie oder ihn kostensparend zu töten. Es reicht, dass es so viele sind oder waren. Einen Missstand aufzudecken bedeutet nicht, einen Generalverdacht gegen alle auszusprechen, Pfleger, Ärzte, Angehörige! Das sollte eigentlich klar sein, wiederholt Shanti, auch ihren Freunden gegenüber, in letzter Zeit immer heftiger: Das ist doch lächerlich – oder leben wir in einer Gesellschaft von Analphabeten?
    Letztens, abends beim Bier, blieben alle verdächtig still. Dann stieß einer Karen an und sagte: Erzähl’s ihr. Und Karen erzählte mit leiser Stimme und ohne sie anzusehen, dass vor Kurzem eine Schwester die Polizei gerufen habe, als sie Karen dabei erwischte, wie sie ihre Mutter mit selbstgebackenem Kuchen fütterte. In der Premium-Seniorenresidenz von Karens Mutter ist inzwischen jegliche Nahrung von außerhalb verboten. Seitdem eine verwirrte Nussallergikerin Pralinen aus dem Spind eines Flurnachbarn geklaut hat und ihr anaphylaktischer Schock um ein Haar letal gewesen wäre, hält man auch die Kekse-Kuchen-Beschränkung nicht mehr für praktikabel.
    Shanti hat gefragt, ob sie sich also schuldig fühlen soll, für diese widerliche Atmosphäre von Verdacht und Denunziation, die ihrer Meinung nach nur davon ablenken soll, dass die meisten Jüngeren die Millionen Pflegebedürftigen und Dementen insgeheim am liebsten legal aus dem Weg räumen lassen würden.
    Dann ist sie entnervt nach Hause gegangen und hat Doktor Guttmann angerufen.
    Analphabeten? Ich würde sagen, wir leben in einer Gesellschaft von Überinformierten und

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