Quasikristalle: Roman (German Edition)
so aussieht, als ob. Genau wie all die anderen Fälle, Luftspritzen, ›Mundpflege‹, Morphium, Grapefruitsaft, Johanniskraut, Insulin für Nichtdiabetiker, Haschisch für Diabetiker, oder einfach das gute, alte Kissen aufs Gesicht. Das Heim wird zu teuer, zu Hause schaffen sie es nicht. So viele Indizienprozesse, so viele Verurteilungen allein aufgrund von Geständnissen. Die Professionellen, Schwestern, Pfleger, gestehen in letzter Zeit seltener, können jedoch durch Akten und Fehlbestände bei den Medikamenten oft relativ zweifelsfrei überführt werden. Die Angehörigen, die meistens aus Überforderung, Ekel oder falsch verstandener Anteilnahme handeln, brechen fast immer zusammen. Nur die mit rein finanziellen Beweggründen bleiben manchmal bockig. Sie wollen nicht zugeben, dass sie es nach Jahren des Verzichts satthatten und, statt ein neues vollautomatisches Bett anzuschaffen, lieber mit ihren halbwüchsigen Kindern eine Woche ins Spaßbad fahren. Bei diesen Leugnern und Schweigern fällt die Verurteilung, wenn sie sich nicht allzu blöd angestellt haben, gelegentlich schwer. Das zeigen die Statistiken, die im Gefolge von Shantis Buch nach und nach erscheinen. Und um sich nicht blöd anzustellen, könnten sie theoretisch zu Shantis Buch greifen. Es gab Stimmen, die sie für die Kapitel über die Todesarten massiv kritisierten, weil man sie angeblich als Handlungsanleitung missbrauchen könne. Was nicht stimmt. Shanti hat keinen der Fälle so detailliert beschrieben, dass man ihn ohne gute medizinische Vorkenntnis nachmachen könnte. Es war ihr aber, im Sinne der Prävention, wichtig, die Kreativität zu beleuchten, die in vielen Fällen am Werk war. Außerdem wissen die Angehörigen normalerweise genau, was ihr eigener Pflegefall nicht mehr verträgt oder nicht mehr schafft. Wo man also unauffällig ein bisschen nachhelfen kann.
Karimi knurrt, dass er ihrem geheimnisvollen Kevin einen Tag gibt. In vierundzwanzig Stunden stellt er sich, oder wir kommen vorbei und downtracken ihn von Ihrer Verbindung, verstanden? Sie wohnen doch da am Park?
Shanti nimmt sich vor, nur noch ein einziges Mal mit Kevin zu sprechen. Er muss sich einen Anwalt oder einen Privatdetektiv nehmen, oder am besten beides. Denn diese Gespräche könnte auch eine pfiffige Sekretärin für ihn führen. Wozu braucht er sie?
Als sie aufgelegt hat, versucht sie, nicht weiter darüber nachzudenken, woher der Typ ihre Nummer hat. Hier muss es irgendeinen Zusammenhang geben, den sie nicht kennt und der ihr unheimlich ist. Dass einer ihrer engsten Freunde einen wie Kevin Glubkowski gut genug kennt, um ihm einen solchen Gefallen zu tun, ist unwahrscheinlich. Prokurist eines Potsdamer Mittelstandsbetriebs, hat Karimi gesagt, wohnhaft in Teltow, geschieden, zwei Kinder. Jahrelanger Rosenkrieg mit der Ex-Frau, Jugendamt, Sorgerechtsstreit. Tante Mia war übrigens die Tante der Geschiedenen, das ist etwas merkwürdig. Ausgerechnet die Tante der verhassten Ex wollte Herr Glubkowski bei sich zu Hause pflegen? Da muss sie nachhaken. Die meisten Menschen wollen nicht einmal ihre eigenen Tanten zur Pflege bei sich aufnehmen. Der Pathologe liefert frühestens am Abend. Vielleicht doch ein natürlicher Tod, wer weiß. Aber was heißt heutzutage schon natürlich?
Shanti duscht und zieht sich an. Sie rollt die Matratze unter das Sofa, sie braucht jetzt Arbeitsatmosphäre. Sie macht eine Liste mit Fragen, dann eine andere Liste, auf der sie die Fragen Personen zuordnet, die sie beantworten könnten. Sie lässt sich nicht hetzen, das signalisiert sie sich selbst. Sie tut, was sie kann, sie investiert dann eben ein paar Stunden. Vielleicht wird Kevin G. ja der Aufhänger für ihren sogenannten Absicherungsartikel. Wahrscheinlich wird Kevin sehen müssen, wie er es allein schafft. So ganz versteht sie seine Panik nicht, auch die Polizei tut ihr Möglichstes. Wir leben ja nicht in Lateinamerika. Und Intrigen, wie er sie imaginiert, gibt es nur im Film. Falls Tante Mia auf natürliche Weise gestorben ist, wird er diese Ermittlung auch ein paar Tage lang in der U-Haft abwarten können. Zu der er überhaupt nur verdonnert würde, weil die Fluchtgefahr durch seine Flucht erwiesen ist. Wäre er brav an seinem Platz geblieben und hätte sich vernehmen lassen, wäre nicht viel passiert, immer gesetzt den Fall, dass er unschuldig ist.
Obwohl es heißer wird, schleift sie ihren Kunstleder-Sitzsack auf die Terrasse. Sie spannt den orangefarbenen Paar-Regenschirm auf, den
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