Quasikristalle: Roman (German Edition)
chronisch Aufgeregten, hat er nachsichtig gesagt und ihr geraten, den Artikel zu schreiben, einfach, um sich abzusichern.
Sie meinen, ich habe es nötig, mich abzusichern, hat Shanti gefragt. Es schadet nicht, war die Antwort.
Lennart Guttmann. Sieht gut aus, sommersprossig, große Nase, sehr deutsch. Ist sicher zehn, zwölf Jahre älter als sie, an die vierzig. Ob er verheiratet ist, weiß sie nicht. Einmal hatte sie fast den Eindruck, als flirte er mit ihr. Sie wird ihn gleich anrufen und diesen Kevin-Fall besprechen, ob es da etwas gibt, worauf sie achten sollte.
Gerade als sie wieder hineingehen will, schlägt unten die Frau mit dem Paket lang hin. Das sieht witzig aus, wie eine Comicfigur, die auf übertriebene Weise fällt, das Paket unter sich begrabend. Aber dann rührt sich die Frau nicht mehr. Shanti kneift die Augen zusammen und beginnt im Kopf die Sekunden zu zählen. Außer ihr hat das vermutlich niemand beobachtet. Ein paar Passanten sind unterwegs, vor den Geschäften, an der Bushaltestelle, aber die Frau liegt fast in der Mitte der Wiese, und vielleicht steht der eine oder andere Baum oder Strauch zwischen ihr und den anderen. Das kann Shanti von hier oben nicht beurteilen. Als sie abzuwägen beginnt, ob es schneller geht, sich anzuziehen und hinunterzulaufen oder den Notarzt zu rufen, richtet die Frau sich auf. Erst kniet sie, dann steht sie auf, schüttelt den Kopf, wie im Zorn über sich. Sie putzt ihren Rock ab. Sie hebt eine kleine Handtasche auf, holt einen Spiegel heraus und betrachtet ihre Haare. Sie steckt den Handspiegel in den Mund, zieht Nadeln oder Steckkämme aus ihrer vogelnestartigen Frisur und befestigt sie wieder. Alles in Ordnung, nur das Paket liegt weiter im Gras. Kein Interventionsbedarf. So alt ist die Frau wahrscheinlich gar nicht. Shanti sieht wirklich schon überall vom Tode bedrohte Rentner.
An der Schwelle zu ihrem Zimmer streift sie die Fußsohlen an der jeweils anderen Wade ab, bevor sie hineingeht. Woher der rote Sand wohl kommt, der hauchfein die Terrasse bedeckt, mal mehr, mal weniger, je nach Windrichtung.
Wenn Sie wissen, Madame, wo dieser Kevin Glubkowski steckt, dann sagen Sie es mir lieber gleich, schnauzt Karimi sie an. Sie hat zuerst ihn angerufen, weil sie nicht einmal sicher ist, ob der aufgeregte Zyniker Kevin kein Practical Joker ist. Aber es gibt tatsächlich einen Fall, und Karimis Laune deutet darauf hin, dass es nicht sein einziger ist. Karimi droht ihr mit einer Anzeige wegen Beihilfe.
Wir wissen beide, dass Sie nur bluffen, lieber Karimi, sagt Shanti und versucht, ihrer Stimme ein Gurren unterzulegen. Auch ihr Satz ist ein halber Bluff. Es irritiert sie, dass Karimi sie grundlos attackiert. Sie steht doch auf seiner Seite. Ihre Recherchen haben mehr Mordfälle ans Licht gebracht, als er je aufgeklärt hat. Ist er eifersüchtig? Vielleicht hat sie ihm zu viel Arbeit gemacht. Vielleicht hat auch er einen Mühlstein aus Alten um den Hals, Eltern, Schwiegereltern, kinderlose Onkel und Tanten, für die er monatlich bluten muss.
Karimi beruhigt sich und nennt Kevin ›kreativ‹. Kreativität ist aber ein Verdachtsmoment, das haben Sie selbst in Ihrem Buch so schlagend beschrieben. Ausgerechnet Sie um Schützenhilfe zu bitten, ist entweder der Verzweiflungsakt eines aufmerksamen Medienkonsumenten oder ein wahrhaft genialer Schachzug.
Shanti versteht nicht, was daran genial sein soll: Er holt Tante Mia aus dem Heim nach Hause, bringt sie nur zwei Wochen später um und hofft, davonzukommen, nur weil er unerwarteterweise mich um Hilfe bittet?
Das findet sie total unwahrscheinlich.
Genauso unwahrscheinlich, dass ausgerechnet Tante Mia plötzlich stirbt, entgegnet Karimi. Sie hört ihn blättern. Die Gute hatte gar nichts, ein bisschen Bluthochdruck, leicht erhöhtes Cholesterin, altersgemäß verengte Carotis, leichte Angina Pectoris, das Übliche. Eventuell ein bisschen sehr dem Wein zugeneigt. Also vor Gesundheit strotzend, in ihrem Alter.
Ist das der Obduktionsbericht, fragt Shanti.
Karimi lacht. Die Entlassungspapiere, sagt er, nur die Entlassungspapiere. Nicht einmal wir hier arbeiten mit CERN-Geschwindigkeit.
Sie haben dann einen kleinen Disput über die zwei, drei Details, die Kevin abgeklärt haben will. Von einem untergetauchten Verdächtigen nehme ich normalerweise keine Aufträge an, meckert Karimi. Shanti hat den Eindruck, dass er immerhin offen bleibt und seine Meinung über Glubkowski nicht in Stein gemeißelt hat, obwohl es natürlich
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