Quasikristalle: Roman (German Edition)
bedrohten. Zu viele echte oder angebliche Kollegen, die sie zu Diskussionsrunden oder Chats einladen wollten. Die unbekanntesten Communitys waren dabei oft die fairsten. Auch für weinende Hinterbliebene, die sich Vorwürfe machen, hat Shanti keine Zeit mehr. Sie hat zu viele ähnliche Geschichten gehört. Sie wünscht sich ein anderes Thema, zum Beispiel etwas Technisches, davon versteht sie wenig, deshalb würde sie es sich gern erarbeiten. Vorläufig kommt sie allerdings nicht weg von ihrem ersten Buch. Und die alte Nummer kann sie auch nicht aufgeben. Einige ihrer besten Informanten haben nur diese, weil sie dem Netz nicht mehr trauen. Dabei gibt Shanti für Verschlüsselung und Spionageabwehr viel Geld aus, sie bezieht sie von einem der beiden Marktführer. Hotelvorhänge, Software, Hardware, Info-Accounts, der Expert-Zugang für das Bundesarchiv, Mitgliedschaften in verschiedenen Netzwerken, die man irgendwann einmal brauchen könnte. Der Online-Übersetzer-Dienst, vierundzwanzig Stunden, alle Sprachen, garantiert. Für solche Sachen geht das Geld drauf, das anderswo fehlt.
Sie ist vor sechs Uhr aufgewacht und liegen geblieben. Eine Weile hat sie dem Staub zugeschaut, der durch die Lichtstreifen zuckt.
Obwohl der Vorhang so teuer war, ist es schwierig, die einzelnen Bahnen genau parallel zu schließen. Sie ist zu ungeduldig oder ungeschickt dafür. Immer bleibt irgendwo eine Ritze, die verkündet, dass draußen die Welt weiter besteht. Dass sie wartet und einen mit ihrem viel zu hellen Licht herausscheuchen will aus allen Verstecken.
Sie muss noch einmal eingeschlafen sein, denn als sie wieder auf die Uhr schaut, ist es fast sieben. Aus dem Augenwinkel sieht sie das Smartpad blinken, grün, das heißt privat. Wie gesagt, nur ihre Mutter, ihre drei Schwestern und ein paar enge Freunde. Deshalb klemmt sie sich das Headset ans Ohr und nimmt das Gespräch an, ohne noch einmal hinzuschauen. Und dann steckt sie schon mittendrin in dieser merkwürdigen Geschichte.
Sie kennen mich nicht, aber ich brauche Ihre Hilfe, sagt der fremde Mann, bitte hören Sie mir kurz zu. Nein, ruft sie sofort, nein, ich höre Ihnen nicht zu, erst sagen Sie mir, woher Sie diese Nummer haben.
Bitte hören Sie mir zu, sagt der Mann.
Wenn Sie mir nicht sagen, woher Sie die Nummer haben, unterbreche ich die Verbindung, droht Shanti, es geht hier um meine Sicherheit.
Da fängt er an zu lachen. Sicherheit, wiederholt er, Ihre Sicherheit? Hören Sie mir zwei Minuten zu, dann werden Sie merken, dass es Ihnen richtig gut geht, Ihnen und Ihrer Sicherheit.
Shanti ist in dieser Hinsicht nicht sehr konsequent. Von einer bloßen Stimme fühlt sie sich nicht bedroht, obwohl sie weiß, was technisch möglich ist. Einer hält sie am Reden, der andere hackt sich in rasender Geschwindigkeit zu ihrer genauen Position durch.
Natürlich könnte sie ihn wegklicken. Aber sie ist neugierig. Ein paar Minuten später unterbricht sie den Mann, um ihm zu raten, sich an einen Anwalt zu wenden. Weiteres bitteres Gelächter. Wieder ein paar Minuten später holt sie etwas zu schreiben. Am Ende fragt sie: Wie erreiche ich Sie?
Ich melde mich, sagt der Mann, in genau vier Stunden das nächste Mal. Halten Sie die Leitung frei.
Nachdem sie aufgelegt hat, macht sie sich erst einmal einen Tee. Es gibt jetzt mehrere Möglichkeiten, es ist nicht leicht zu entscheiden, welche die klügste ist.
Sie könnte Karimi anrufen, in der Mordkommission. Sie mag ihn zwar nicht, aber sie vertraut ihm bis zu einem gewissen Grad. Allerdings hieße das vielleicht, schlafende Hunde zu wecken. Auch wenn der Mann beteuert, dass ihm alle längst auf den Fersen seien.
Sie könnte Jan anrufen, wie immer. Er ist Jurist, zwar auf einem anderen Gebiet, aber begnadet vernetzt. Er hat ihr bei ihrem Buch sehr geholfen. Vor Jahren haben sie ein paarmal miteinander geschlafen und bald wieder damit aufgehört. Auf anderen Ebenen funktioniert ihre Kommunikation einfach besser. Jan kennt bestimmt einen geeigneten Anwalt, einen, der selbst gern kombiniert. Und vielleicht hat er eine Idee, wie sie herausfinden kann, ob der Anrufer, der sich Kevin nennt, überhaupt vertrauenswürdig ist. Die Geschichte, die er erzählt hat, klingt so absurd, dass etwas in ihr wünscht, sie möge wahr sein. Aber das, als Ausgangslage, ist irrational.
Einen Arzt brauchte sie sowieso, das ist noch das Einfachste. Sowohl Doktor Guttmann als auch die vielbeschäftigte Frau Doktor Ince sind Shantis Fragen gewöhnt, die immer
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