Quasikristalle: Roman (German Edition)
haben, doch vermutlich ist das für ihn kein Problem.
Wird enger für Ihren Freund, sagt er ohne Begrüßung, diese Ursina Morand gibt es zwar tatsächlich, aber sie hat ihren beschaulichen Heimatort nicht verlassen, nicht in den letzten drei Tagen.
So schnell, fragt Shanti, um Zeit zu gewinnen.
Habe einen lieben Bekannten in der Schweiz, summt Karimi, und da die Dame im Nest saß und nicht erst zwischen hier und Solothurn aufgespürt werden musste, kriegt man diese Info eben pronto.
Er schwört, er hat sie zwei Straßen weiter gesehen, sagt Shanti.
Doppelgängerin, sagt Karimi, Halluzinationen, pure Erfindung, was weiß ich.
Immerhin hat Karimi gut gearbeitet, er selbst oder seine Schweizer Verbindungsleute. Bis auf die jüngste Reise nach Berlin stimmt nämlich alles, was Glubkowski über Ursina Morand behauptet hat: Sie arbeitet für eine der Sterbehilfeorganisationen, und sie hatte Tante Mia in ihrer Kartei. Tante Mia sei kein Akutfall gewesen, nur eine von den vielen, die sich präventiv anmelden, um später die ›Kontrolle über die eigene Würde‹ zu behalten, wie es in den Werbebroschüren heißt.
Gegen eine kleine Spende, ätzt Shanti, und dann hofft man, dass sie noch lange freiwillig leben, damit man diese Spenden möglichst oft kassiert. Manche Leute nennen das Selbstmordversicherung.
Karimi sagt dazu nichts. Shanti ärgert sich, dass sie sich angebiedert hat. Gleichbleibende freundliche Undurchschaubarkeit, das war bisher ihre Rolle für Karimi. Sie würde zu gern etwas über seinen familiären Hintergrund erfahren. Sie scannt im Kopf ihre übrigen Polizeikontakte, ob da einer etwas wissen könnte.
Frau Morand hat ausgesagt, ein einziges persönliches Gespräch mit Tante Mia geführt zu haben, vor drei Monaten, da war sie noch in der ›Kirschblüte‹. Das Übliche, Abklärung aller Wenns und Danns, wenn PEG-Sonde, wenn Hirntod, wenn beginnende Demenz. Nichts weiter. Kein Kontakt seither, und dass keinerlei Medikamente übergeben wurden, würde sie eidesstattlich erklären.
Einen Fehler hat mein Kollege allerdings leider begangen, sagt Karimi und macht eine Kunstpause.
Shanti schweigt. Er platzt ja gleich vor Vergnügen, das kann sie genau hören.
Er hat ihr erzählt, dass sich der verdächtige Neffe ausgerechnet an Sie gewendet hat, sagt Karimi und kichert. Und da wurde aus dem mütterlichen Todesengel urplötzlich eine Art Hyäne.
Achten Sie auf Ihre Metaphern, Herr Kommissar, rügt Shanti.
Immer dieselben Missverständnisse und Kurzschlüsse, immer dieselben irrationalen Frontlinien. Genauso wenig wie sie die Gesamtheit der Ärzte, Sozialarbeiter, Seelsorger, Hospizmitarbeiter und Pfleger kriminalisiert hat, hat sie sich je ein Urteil über ausdrücklich verlangte Sterbehilfe angemaßt. Das ist Sache von Ethikkommissionen, Sache des Gesetzgebers. Jede Gesellschaft gibt sich die Regeln, die sie braucht. Worüber Shanti geforscht und geschrieben hat, sind die Regelverstöße. Aber massenhafte Verstöße bringen automatisch die Regeln selbst in die Kritik. Soll man sie also lockern oder verschärfen?
Wo es Gewalt in großem Maßstab gegeben hat, weitet sich der Blick. Angrenzende Gebiete geraten in Revision. Viele wollten vor Gericht ihre Taten als Sterbehilfe beschönigen, sprachen von Erlösung und Gnade. Deshalb hat Shantis Buch auch all die ausländischen Organisationen mit den griechischen und lateinischen Namen aufgestört, die wie Frösche um den großen, alten, vollen deutschen Teich sitzen und mit langen Zungen warten. Doch all das interessiert Shanti nicht mehr, nicht inhaltlich, sondern höchstens strukturell. Man sagt etwas zum Thema A, doch der Lobbyist von Thema B fühlt sich auf den Schlips getreten und droht mit dem Anwalt. Der von Thema C hingegen hält einen aus unerfindlichen Gründen für seinen Bundesgenossen und hat hohe Erwartungen, die, wenn sie nicht erfüllt werden, in Ad-personam-Empörung umschlagen: In Ihrer Heimat sterben die Menschen wie die Fliegen, besonders die Kinder, aber Sie… Welche Heimat, fragte sie erst dumm, bis sie begriff, aufstand und das Podium wortlos verließ.
So gehen bei allen Reizthemen die Wogen hoch, hin und her. Irgendwo dazwischen, zwischen Shit-und Like-it-Stürmen, schnappt man nach Luft. Nur wenn man seine Geräte ausschaltet, kommt man raus aus dem Unwetter. Dann wird es still, ohrenbetäubend still. Umso wichtiger, im echten Leben nicht gefunden zu werden. Umso wichtiger Verschlüsselung und Geheimnummer. Wahrscheinlich
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