Quasikristalle: Roman (German Edition)
machten sie absichtlich, die polnischen Archivare! Er schickte die Gruppe barsch weg, für eine halbe Stunde. Die Chefarchivarin kam zehn Minuten später und entschuldigte sich händeringend. Ein Anruf von Rozmburk! Der sich nach ihnen erkundigt hatte! Und über die neuen Vereinbarungen mit Yad Vashem informiert sein wollte. Ausgerechnet ihn habe sie doch nicht einfach unterbrechen können! Gott sei Dank gehe es ihm besser.
Die schwere Eingangstür hatte einen Knauf und eine Schließvorrichtung, Bernays war das nie zuvor aufgefallen. Man konnte sie nicht arretieren, weder mit einem Holzpflock noch mit einem Stein. Man hätte einen Grabstein gebraucht. Die Archivarin hob bedauernd die Schultern, sie schien das Problem nicht zu begreifen. Bernays ging hinauf, trank mit ihr einen Kaffee und stieg ein paar Minuten vor der vereinbarten Zeit wieder hinunter. Baute sich als Türsteher auf. Von seinen Leuten keine Spur. Die Ersten, die kamen, waren Mario und Xane, fast zehn Minuten zu spät. Bernays, der mit seinem Körper die Tür offenhielt, hatte inzwischen Zeit für detaillierte Gewaltphantasien gehabt, wie zum Beispiel, die ersten Ankömmlinge wortlos zu erwürgen. Eine blasse Uschi und der fade Jürgen würden da etwa liegen, im unbarmherzigen Sonnenschein; das typisch sinnlose Vergeltungs-und-Abschreckungs-Opfer, Lidice, Marzabotto, wie sie alle hießen. Aber Xane war dafür nicht vorgesehen, kriegswichtig, zur besonderen Verwendung.
Eine unglaubliche Unhöflichkeit, zischte er also mit einem theatralischen Blick auf seine Uhr, wo sind die anderen? Mario machte kehrt und rief, er werde sie sofort holen, Xane drängte ihn burschikos von der Tür weg und sagte: Geh schon rauf, ich halte offen.
Das machst du nicht, du nicht, stammelte er, und seine Wut wurde noch größer, weil er sie überhaupt nicht verstand. Da bog pfeifend der Herr Architekt um die Ecke. Der kam ihm gerade recht. Bernays sprang auf ihn zu, riss ihn fast in den Eingang hinein und schrie: Auch Sie keine Uhr dabei? Sie halten die Tür auf! Bis alle da sind! Zwölf ohne Sie, verstanden? Er packte Xane und zerrte sie die Treppe hinauf. Beruhige dich, sagte sie so liebevoll wie eine geschulte Ehefrau, du hast es fast geschafft mit uns. Er blieb stehen.
Kommst du mich besuchen, fragte er, sah sie tapfer an und fühlte sich wie damals, als ihm seine Mutter von den Strudeln, Kolatschen und Powidltatschkerln erzählte, und vom niemals versiegenden Schlagobers.
Das wäre natürlich schön, sagte sie und lächelte ihn an.
So bald und so lange du willst, sagte er, und sie wiederholte, das wäre schön.
Aber dann kam sie nie. Vor allen anderen umarmten sie sich auf dem Bahnhof in Wien; nur ein Zufall verhinderte, dass sie einander gleich am nächsten Tag an Rozmburks Krankenbett wiedertrafen. Sie telefonierten, am Anfang oft, dann seltener; irgendwann, nachts, ein Glas Rotwein in der Hand, erzählte er ihr von Pauline. Danach klang sie manchmal wie eine Psychotherapeutin, oder ein wenig ironisch, wenn sie sich nach Madame Sussman erkundigte.
Ophélie feierte eine wunderschöne Bat Mitzwa; mit dem hochbegabten kleinen Léon fuhr Bernays allein nach Antwerpen und zeigte ihm die Museen der Stadt. Als sich Yannick in der Sauna wieder den Schwanz lang zog, fragte Bernays, ist das eigentlich angenehm, woraufhin Yannick zusammenfuhr wie ein Schlafwandler und es nie wieder tat. Das Henna war zum richtigen Zeitpunkt so schwach geworden, dass es niemandem auffiel, und auf Bernays’ Haaransatz achtete ja keiner, außer der kleinen Friseuse dann und wann. Xane wollte lieber nach Paris, sie könnten einander ja dort treffen, aber als sie endlich mit einem Terminvorschlag herausrückte, fiel er mit der internationalen Vernichtungslager-Konferenz in Toronto zusammen.
Zwei Jahre später erzählte sie ihm aufgeregt, dass sie heirate. Verdammt, warum nicht mich, fluchte er, und sie lachte, kinderglockenhell, und sang, ach Hugo, du bist so süß, du warst immer so ein Süßer , und als er auflegte, wusste er, nun musste er Pauline wirklich verlassen, bevor er sich neben ihr noch sein Grab kaufte.
Denn sehen Sie, so ist das Leben:
Man setzt sich, doch man setzt sich stets daneben.
– Georg Kreisler –
3 Kennen ist wirklich zu viel gesagt. Das Fräulein hat eine Zeitlang Top 2 gemietet, Hochparterre links, damals, nachdem die Hofrätin Soyka gestorben ist und Hannelore auf eine Komplettsanierung bestanden hat. Die Hofrätin Soyka, mein Gott. Seit Ludwig sich erinnern
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