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Quasikristalle: Roman (German Edition)

Quasikristalle: Roman (German Edition)

Titel: Quasikristalle: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Menasse
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bei einer eitrigen Angina. Er wusste nicht, wie ihm geschah. Sie klappte den Kopf wieder nach vorn und tippte mit den Fingerspitzen kurz an seinen Unterarm.
    Entschuldigen vielmals, Herr Diplomingenieur, sagte sie und lachte noch einmal auf, wissen Sie, die Musik ist ein wunder Punkt bei mir. Ich gäbe viel darum, so gut zu spielen, dass ich mich für Hausmusik anbieten könnte, aber leider…
    Und dann lief sie, den Kopf schüttelnd und sich die Augen reibend, mit großen Sprüngen hinein ins Haus, denn wahrscheinlich standen die Träger ja längst oben und fragten sich, wohin mit dem Klavier.
    Man hörte das Klavier tatsächlich nie. Nachts hatte sie lange das Licht an, das weiß Ludwig nur, weil es fast jedes Mal brannte, wenn Hannelore und er vom Theater oder aus dem Konzert zurückkamen. Von ihren kulturellen Aktivitäten abgesehen, gehen die Tschochs früh schlafen.
    Dann wieder schien sie tagelang verschwunden zu sein; die Fenster waren zu, die Rouleaus herunten, und der Briefkasten hat gut gefüllt ausgesehen, durch die Luftschlitze. Es geht uns nichts an, versuchte sich Ludwig zu sagen, bei der Hofrätin Soyka hat man den Tagesablauf auf die Minute gekannt, es war zu erwarten, dass das anders wird.
    Die Soyka ist jeden Vormittag im Schlafrock zum Briefkasten gegangen, weil sie auf Post ihrer Kinder gewartet hat, meistens vergeblich, soweit er weiß. Drei Wochen war sie im Sommer in Ischl, mit Nachsendeauftrag. Ansonsten war sie da. Wenn der Briefkasten einmal nicht geleert gewesen wäre, hätte das bedeutet, dass sie gestorben, mindestens krank geworden war. Als sie damals mit der Rettung abfuhr, hat sie noch daran gedacht, ihre Schlüssel oben einzuwerfen oder einwerfen zu lassen, und am nächsten Tag war Hannelore schon unten drin, zum Lüften und zum Blumengießen. Als sie zurückkam, ließ sie die Bemerkung fallen: Komplettsanierung nicht zu vermeiden … Leitungen aus dem Jahre Schnee…, worauf er missbilligend antwortete, dass die Hofrätin gar nicht so schlecht ausgeschaut habe.
    Die kommt nicht zurück, erwiderte Hannelore und behielt recht.
    Der Alltag des Fräulein Molin dagegen schien irgendwie stoßweise zu verlaufen. Manchmal arbeitete sie offenbar woanders, dann wieder ganze Nächte hindurch in ihrer Wohnung. Hannelore erwähnte vormittägliche Begegnungen im Supermarkt, wo sie Milch, Kaffee und ein paar Semmeln geholt und einen abweisenden Ausdruck im Gesicht getragen habe. Die hat noch nicht geschlafen, bemerkte Hannelore an solchen Tagen, fleißig, diese jungen Leute.
    Manchmal saß sie die Tage über lesend am Balkon, mitten unter der Woche. Ab und zu ließ sie das Buch sinken und zeichnete etwas in ein großformatiges Heft. Er hatte oben am Dachboden eine kleine Spiegelscherbe, mit der man auf ihre beiden Balkone blinzeln konnte. Die Scherbe steckte zwischen Regenrinne und Hauswand. Wenn er hinauf zum Füttern ging und die Dachluken öffnete, zog er sie hervor und überprüfte rasch alle Balkone seiner Villa. Nach Gebrauch steckte er sie jedes Mal sorgfältig zurück, Hannelore hatte davon keine Ahnung. Er traute den Mietern nicht. In all den Jahren war es zwar nur einmal vorgekommen, dass ein auf dem Balkon vergessener Pappkarton bei einem schweren Schauer aufweichte und den Abfluss verstopfte, aber ein Ludwig Tschoch hat seinen Besitz lieber im Blick. Die Balkone abblinzeln, so nannte er das bei sich. Er gab den Tieren ihr Futter, wechselte das Wasser und ging einmal reihum, die Luken zum Lüften zu öffnen. Danach zog er die Scherbe aus ihrem Versteck und blinzelte ab, einen nach dem anderen. Nie war etwas Besonderes zu sehen, Frau Molin, wie gesagt, oft lesend am großen Nordbalkon, die Mädchen vom Zahnarzt rauchend, wenn sie gerade Pause hatten, und Ludwig sah zufrieden, dass sie die großen roten Aschenbecher mit dem Schriftzug einer Bank benutzten. Keine aschte über die Brüstung auf seine Rosen, das hätten sie nicht gewagt, hier draußen konnte man sich auf so etwas noch verlassen.
    Aber das eine Mal fuhr er richtig zusammen, als hätte ihn jemand geschlagen. Denn er begriff, als was ihm sein Abblinzeln ausgelegt werden könnte, von Menschen, die einem nicht wohlmeinen. Und solche soll es durchaus geben.
    Im ersten Moment dachte er an ein Gewaltverbrechen, als er den nackten Oberkörper des Fräulein Molin auf ihrem winzigen Küchenbalkon liegen sah, Polizeisirenen, die weißen Overalls der Spurensicherung und ein Zinksarg wie im Fernsehkrimi zuckten durch sein Hirn. Doch als

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