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Quasikristalle: Roman (German Edition)

Quasikristalle: Roman (German Edition)

Titel: Quasikristalle: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Menasse
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sicher, dass ich mich nicht erwischen lasse, sagte sie, aber du wirst mir bestimmt gleich sagen, dass sich das alle vornehmen.
    Ich habe heute genug geredet, erwiderte er, wäre schön, mir erzählt auch mal einer was.
    Ich erzähl’s dir später, sagte sie.
    Warum?
    Warum nicht?
    Xane, komm schon…
    Okay. In dem kleinen Wald. Bei dem Foto mit den ungarischen Kindern. Da ist es mir zu viel geworden … – und ich habe an meine Freundin denken müssen. Ich weiß aber nicht, in welcher Reihenfolge.
    An welche Freundin?
    Sie hieß Claudia. Sie ist gestorben, da waren wir vierzehn. Zu Hause im Bett, ein Gehirnschlag, so etwas Ähnliches. Nicht direkt friedlich, aber immerhin hat niemand sie umgebracht.
    Und jetzt wirfst du dir vor, dass dir das hier eingefallen ist?
    Und du wirst mir sicher gleich sagen, dass das normal ist? Weil das hier eben ein Ort der Toten ist? Das ist mir zu banal.
    Woher du immer weißt, was ich gleich sagen werde.
    Wolltest du nicht?
    Ich weiß nicht, was ich wollte. Schmerzensort wäre mir lieber. Kann man das auf Deutsch sagen? Du störst einen manchmal beim Denken, weißt du?
    Tut mir leid – nein, tut mir echt leid! Das meine ich nicht ironisch! Sag, bist du eigentlich Jude, ich meine, du weißt schon …
    Pass auf: Letztens hat mir mein Freund Yannick folgende Geschichte erzählt. Jemand hat ihn gefragt, dieser Bernays, ist der nicht Jude? Und Yannick hat darauf geantwortet: Bernays? Ach, wissen Sie, das stört mich gar nicht besonders!
    Xane grinste, noch ein bisschen schief, aber immerhin. Bernays war zufrieden. Ab jetzt war alles erlaubt. Sie waren draußen, außerhalb des Lagergeländes, sie hatten sich gut geschlagen, alle miteinander, keiner war ausgeflippt oder zusammengebrochen, was meistens nicht das Unangenehmste war. Das Unangenehmste waren die Reaktionen der anderen. Sogar der alte Slezak war noch sprechfähig und würde bestimmt bald beginnen, sich am anderen Ufer hochzuziehen. Das andere Ufer hieß: Retrospektive. Es hieß: Vergangenheitsform. Es war einer der Wendepunkte meines Lebens. Erst dort habe ich verstanden, dass. Seither bin ich ein anderer, weil. Man muss dort hinfahren, um zu begreifen, wie.
    Bernays war der Meinung, er habe eine Belohnung verdient. Er würde jetzt herausfinden, was das war mit dieser Xane. Sie suchte den Juden wie ein neugeborenes Kätzchen die Zitze. Sie suchte ihn, so wie Bernays als Student die Nähe zu Rozmburk gesucht hatte, dem Überlebenden. Hier aber trat die sogenannte geschlechtliche Dimension hinzu.
    Das ist keine Antwort, sagte sie.
    Du gibst nicht auf, neckte er.
    Bei dir nicht, gab sie zurück und strahlte, weil sie sich so verwegen fand.
    Pass auf, sagte er, nahm sie wieder an die Hand und steuerte auf das rotbeleuchtete, durchaus fragwürdige Etablissement namens ›Scorpio Club‹ zu, von dem er sich schon bei früheren Gelegenheiten hatte trösten lassen, wir trinken erst einen Wodka, und ich erzähle dir alles, was du wissen willst.
    Die Gruppe stand im schummrigen, vollkommen leeren ›Scorpio Club‹ wie in der falschen Kulisse. Es wirkte, als hätte Bernays sie einmal mehr überraschen wollen, dabei hatte er bloß an seine eigenen Bedürfnisse gedacht. Regencapes und schlammverkrustete Schuhe, quietschbunte Rucksäcke und selbstgestrickte Wollmützen inmitten von abgeschabtem Samt und Tischlämpchen mit Fransen. Um sechs Uhr nachmittags. Hinter der Bar erschien ein gallengelber Kellner, drückte seine Zigarette aus und beobachtete sie mit dem Ausdruck, den die Besucher slawischer Länder gern für Unfreundlichkeit halten, der aber nur weltumspannende Gleichgültigkeit ist. Während Frauke und Jürgen in den Vorraum zurückgewichen waren, wo sie anscheinend versuchten, ihre Schuhe zu reinigen – Bernays dachte, typisch deutsch, wahrscheinlich kommen sie gleich auf Socken herein –, schlüpfte Xane mit einem Laut des Entzückens in eine der mittleren runden Logen, rutschte auf der Plüschbank nach hinten und zog an der schimmernden Schnur, die aus der Lampe baumelte. Als wäre sie im Separee aufgewachsen.
    Einen Moment lang hatte Bernays eine seiner Visionen. Abenddämmerung in der Karibik. Ein Flugzeug, auf offenem Meer notgelandet. Die Passagiere rutschen diszipliniert über die Flügel ins Wasser, einer nach dem anderen, gegürtet mit gelben Schwimmwesten. Dann treiben all die Köpfchen auf dem lauen Wasser. Und der Erste schaltet sein Lämpchen an. Sagten sie einem nicht immer, dass die Schwimmwesten auch über

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