Quasikristalle: Roman (German Edition)
geronnen, die Sekretärin allerdings deutlich dicker. Als er an den Tisch zurückkehrte, gab es Schoko-Nuss-Palatschinken für alle. Xane, deren Augen alkoholisch glänzten, was ihr sehr gut stand, deutete mit Koboldsgrinsen auf Slezak. Der erhob sich vorsichtig, sobald Bernays wieder saß, und hielt eine rührende Dankesrede, die sich zu einer Lobeshymne auf unseren großartigen, sensiblen und geduldigen Herrn Professor emporschraubte. Er verhaspelte sich ein paarmal, Applaus und Gejohle, und Bernays kniete sich auf die Sitzbank und reichte ihm zeremoniell die Hand hinüber.
Als sie vor die Tür des ›Scorpio Club‹ traten, murmelte jemand: Night and Fog. Der Heimweg war geräuschvoll. Sie stolperten durch die Finsternis, einige versuchten es wieder mit Singen ( Hitler had only got one ball, Goering had two but they were small …), Moni wollte tatsächlich dirigieren und ging rückwärts. Bernays hatte für Xane bezahlt, Xane für den Architekten, der wieder blank war und mit rotem Kopf murmelte, sie bekomme in Wien alles sofort zurück. Frauke hatte sich bei Jürgen eingehängt, die beiden verglichen offenbar die philosemitischen Exerzitien ihrer Kindheit, die klassischen westdeutschen Wochenendausflüge zu den renovierten Synagogen der Umgebung, die man mangels Juden zu Kulturstätten oder Museen umwidmen musste. Bernays grinste in sich hinein. Aber sobald die israelische Armee irgend so einen Terror-Scheich aus seinem Wohnzimmer bombte, wurden israelische Klezmer-Musiker von den Betreibern der Ex-Synagogen kurzfristig ausgeladen. Nie wieder Auschwitz! In Deutschland renovierten sie inzwischen sogar die Erschießungsstätten der Nazis, um dort Kränze abzulegen. Was sind die schönen, gebildeten, toten Juden doch für ein Verlust! Die lebenden dagegen sind meistens recht schwierig. Auch damit brachte er Xane zum Lachen, das gelang ihm inzwischen oft. Insgesamt war das ein gutes Zeichen. Aber nun hielt sie sich sogar beim Gehen die Hand vor den Mund, die andere. Eine war ja bei ihm eingehängt. Bernays blieb stehen, nahm sie an den Schultern und drehte sie zu sich. Die anderen zogen vorüber, in einer losen, lärmenden, unaufmerksamen Kette. Er sah sie an. Er versuchte, so böse und bedrohlich zu schauen, wie er nur konnte. Ihr Mund stand ein bisschen offen. Sie wusste nicht, was kam.
Pass mal auf, meine Süße, sagte er, wenn du lachst, versteckst du nie wieder deinen Mund, verstanden? Zeig mir deinen schiefen Zahn, ich will ihn sehen!
An ihrem Blick sah er, wie es wirkte. Es war niederschmetternd. Frauen wollten in Wahrheit Machos, insgeheim, sie liebten ruppige Befehle mit schmeichelndem Kern. Pauline war im Grunde nicht anders, seit zwanzig Jahren beschränkte sich der Macho, den sie von ihm erwartete, allerdings aufs Bett. Er hatte es wohl immer falsch gemacht, war viel zu ehrlich er selbst gewesen, zu allen, besonders zu Pauline.
Ich hab nur gegähnt, sagte Xane, aber du schuldest mir noch die Geschichte deiner Beschneidung.
Was weißt du von meiner Beschneidung?!
Leider noch nichts. Du hast es in Aussicht gestellt, am Weg hierher.
Also Zahn gegen Vorhaut, flachste er, entschuldigte sich aber sofort.
Du brauchst dich nicht zu entschuldigen, sagte sie, ich persönlich halte Zahn gegen Vorhaut für einen fairen Deal, und er dachte, meine Güte, hat dieses herrliche Mädchen denn irgendeinen Fehler?
Also küsste er sie. Die anderen waren weit voraus, vom Nebel verschluckt. Er küsste sie mehrmals, mit geschlossenen Lippen, er haderte mit seinem Wodka-und Fritky-Atem. Sie ließ sich küssen, sie lehnte sich gegen ihn, er dachte später oft darüber nach. War er so betrunken gewesen, dass er sich das eingebildet hatte? Einverständnis, Entgegenkommen? Aktive Küsse? Komm, sagte er, wir müssen. Sie nickte, sagte nichts, und so liefen sie den anderen nach, Hand in Hand, doch als sie in der Jugendbegegnungsstätte ankamen, geschah es irgendwie, dass sie mit den anderen Tischtennis spielen ging, und er ging ins Bett, das er gerade noch fand.
Der Vormittag vor der Abfahrt verunglückte katerbedingt. Zwei Studenten hatten verschlafen, Bernays fauchte den Satz, den er an seinem Vater schon so sehr gehasst hatte, Wer trinken kann, kann auch aufstehen , und merkte, wie er saß, mit seiner gemeinen Verschränkung von Rausch und Pflicht.
Als sie als letzten Programmpunkt das Archiv besichtigen wollten, war keiner da. Bernays drückte die Klingel und kam sich, in seiner Gewitterstimmung, gedemütigt vor. Das
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