Quasikristalle: Roman (German Edition)
ihr nicht nach jedem zweiten Schlecken mit einem Feuchttuch im Gesicht herumwischte. Vielleicht wäre es gar nicht so. Trotzdem hatte sie keine Lust. Als Xane erneut auf dieses Thema kam, sagte sie geradeheraus: Du, Xane, ich möchte das lieber nicht.
Es gab eine Pause, Sally hörte sie atmen, dann erwiderte Xane: Das hättest du auch früher sagen können. Jetzt komme ich mir vor wie ein Idiot.
Du bist manchmal ein Idiot, sagte Sally und lachte. Da legte Xane auf.
Kurz darauf lernte Sally Jörg kennen, der auf einem Straßenfest Saxofon spielte. Er kaufte Baby einen Hello-Kitty-Luftballon. Er war lustig und ironisch, er studierte Philosophie, sein Akzent war klar und westdeutsch und nicht irgendwie komisch oder berlinerisch, und über ihren verlor er anfangs kein Wort, schon gar nicht in Richtung niedlich. Er trug eine Österreicher-Brille. Er hatte gerade so viel mehr Geld als sie, dass es nicht störte, ein bisschen bekam er von zu Hause, dazu jobbte er in einem großen Hotel an der Rezeption. Bald schlief er mehr bei ihr als in seiner WG. Das hatte es nie zuvor gegeben. Wenn Milch da war, machte er Baby morgens Kakao. Wenn er in die Bar kam und ihr zuhörte, fühlte sie sich nicht bewacht, sondern stärker. Einmal stellte er sich bei einer Nummer dazu und spielte ein kleines Solo; die Leute mochten das, und Bernd, der Klammeraffe von Pianist, erhielt den finalen Schlag in die Magengrube. Alles fühlte sich mit einem Mal sehr leicht an, und es war immer noch sommerlich warm.
An einem Sonntagmorgen, sie lagen noch im Bett, läutete das Telefon. Es läutete und läutete, Sally stöhnte, verdammt, Xane, hör auf, und zog sich die Decke über den Kopf. Später, als sie mit einem Becher Kaffee an die Wand gelehnt saß und es zum dritten Mal läutete, hob sie ab. Xane, ich schlafe noch, rief sie in den Hörer, aber dann war es Mor und ein Notfall.
Sally wollte nicht ins Spital fahren, sie wollte es einfach nicht, sie konnte es nicht erklären. Sie wusste, sie eignete sich nicht als moralische Stütze, sie als Allerletzte. Auf diesem Gebiet hatte sie schon früher versagt. Sie wühlte unentschieden in ihren T-Shirts und schnitt Grimassen. Sie trat die Schranktür zu. Was ist eigentlich los, fragte Jörg, und sie schrie: Ich weiß nicht, ich weiß nicht, ich will nicht. Baby tippte sich mit verschwörerischem Blick an die Stirn, solche Sachen machte sie neuerdings, das kam davon, wenn man die klassische Mutterrolle ablehnte.
Wir fahren alle zusammen, entschied Jörg, und zum ersten Mal hasste sie, dass er so perfekt verständnisvoll war. Im nächsten Moment hing sie an seinem Hals und quietschte und zappelte, bis er sie, damit sie wieder runterkam, in die Schulter biss.
Es dauerte, bis sie alle fertig waren. Baby wollte plötzlich frühstücken und sich das Brot allein schmieren. Sally zog eine Weste an und wieder aus. Den Wollmantel, der war zu heiß. Die Jeansjacke, die war zu schmutzig. Als käme es darauf an.
Auf dem Krankenhausgelände gab es eine Cafeteria, so trist wie überall. Dort parkte sie Jörg und Baby, obwohl Baby unbedingt mitwollte. Beim Hinausrennen hörte sie, dass Baby wenigstens ein Milky Way einforderte.
Vor der Tür von Haus 22 stand Mor und rauchte. Seit wann rauchst du, fragte Sally und hielt ihm die Wange hin. Er machte eine unbestimmte Bewegung mit der Hand, die die Zigarette hielt.
Geht’s ihr so schlecht, fragte Sally.
Nein – ja – psychisch halt, sagte Mor und sah grau aus.
Im Eingangsbereich standen Blumen in Wasserkübeln, die wohl für die Entbindungsstation im selben Haus gedacht waren. Sie kaufte, indem sie darauf zeigte, etwas, was zu Hause Bonbonniere hieß. Ach ja, Pralinen, eine Schachtel Pralinen. Als sie das richtige Zimmer gefunden hatte und die Tür aufstieß, richtete sich eine ältere Frau erwartungsvoll auf. Dahinter ein Wandschirm. Sally lächelte unbestimmt, trat an den Wandschirm heran, steckte den Kopf dahinter und rief: Kuckuck!
Da war Xane, ja, aber sie war nicht richtig zu erkennen, sie war irgendwie nicht sie selbst. Ihre Haare klebten am Kopf und wirkten fettig, sie war ungeschminkt und bleich, eines ihrer Augen war stark gerötet, aber auch das andere weinte, ohne viel Grimasse, einfach vor sich hin. Man braucht nicht alt zu sein, im Krankenhaus wird sofort klar, dass wir unseren Körper nur geliehen haben, dass er meistens mehr scheint, als er ist. Xane drehte das Gesicht halb in das Kopfpolster, als sie Sally sah. Sallys Körper wollte rückwärts
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