Quasikristalle: Roman (German Edition)
sie versuchte Judiths Nicht-Gesicht. Mor betrachtete seine Füße. Xane zog eine Klarsichtfolie mit Kopien hervor und wedelte damit vor Sally auf und ab. Sally rührte weder sich noch ihre Hände. Na komm schon, sagte Xane und warf ihr die Zettel in den Schoß, das schaffst du mit links! Sally tat nichts. Mor beugte sich über sie, nahm die Papiere und legte sie auf den Tisch. Dann streichelte er Sallys Schulter, linkisch und zart.
Was ist los, fragte Xane und saß endlich still.
Sally hat ein bisschen erzählt, von ihren Eltern, sagte Mor.
Geht’s deiner Mutter schlechter? Xane sah erschrocken aus.
Ihre Mutter ist tot, sagte Mor.
Xane schlug sich die Hand vor den Mund. Sally beobachtete das zufrieden. Es war nicht gespielt.
Wann – heute, fragte Xane flüsternd.
Vor zwei Jahren, sagte Sally mit fester Stimme.
Xane riss die Augen auf.
Sie hat vor zwei Jahren Selbstmord begangen, erklärte Mor, Sally wollte es dir erst nicht sagen, sie weiß nicht, warum.
An seinem Hemdkragen war ein schwarzer Fleck von Sallys Wimperntusche.
Das tut mir so leid, stammelte Xane, wie schrecklich, das tut mir so wahnsinnig leid.
Sie blieben schweigend sitzen. Wahrscheinlich wäre Mor gern ins Bett gegangen, aber nun richtete sich alles nach Sally. Sie nickte majestätisch, als er fragte, ob er noch eine Flasche öffnen solle. Nach einer Weile begann Xane leise, Erinnerungen auszupacken, sie konnte eben nichts so gut wie reden.
Wie sie alle zusammen das neue Himmelbett gestrichen hatten, im gelben Salon. Dass Sallys Mutter die Farbkleckse rund um das Bett, die die Kinder verursachten, gar nichts ausgemacht hatten. Das passt zu mir, hatte sie gesagt, ich bin nicht so perfekt wie der Papa. Sie beschrieb Mor das besondere Lächeln Zsuzsas, kindlich, herzlich, anrührend verletzlich. Und ihre verblüffend hohe Sprechstimme, die zu dem dunkel timbrierten Mezzosopran gar nicht recht passte.
Selbst du, Sally, hast irgendwie älter gewirkt als sie.
Das Lächeln hatte Sally zwar nicht vergessen, aber wenn sie an ihre Mutter dachte, kamen andere Bilder. Jeder bewahrt etwas anderes auf. Es hatte sich doch gelohnt, es zu erzählen. Xane hatte ihr eine Erinnerung zurückgegeben. Für einen Moment machte es sie milder.
Sally trank ihr Glas aus und stand auf. Jedenfalls vielen Dank euch beiden, für alles, sagte sie auf die schattigen Köpfe hinunter, morgen früh packen wir uns zusammen und gehen gesund und munter nach Hause. Auf dem Weg durch das Zimmer merkte sie, dass der Gleichgewichtssinn ein wenig in Mitleidenschaft gezogen war. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, das half manchmal. Hocherhobenen Hauptes, um Haltung bemüht, hätte sie davontrippeln wollen, aber Xane hatte ja noch immer nicht genug.
Als sie an der Tür war, rief sie: Sally, Sally, wie … sag mir bitte, wie hat sie es gemacht?
Sally drehte sich um, suchte zur Sicherheit mit dem Po am Türrahmen Halt, legte sich blitzschnell beide Hände um den Hals, Daumen vorne über den Kehlkopf, Ellenbogen auf Ohrenhöhe, streckte die Zunge heraus, rollte medusisch mit den Augen und gurgelte dazu wie nicht gescheit. So, sagte sie und lachte laut über die Gesichter, die die beiden machten, mit einem Strick, Xane, wie ein Mann!
Am nächsten Morgen bestand Mor darauf, sie mit dem Auto nach Hause zu bringen. Xane schenkte Baby zum Abschied das kämmbare Pferd und machte sich damit bei ihr vermutlich unsterblich. Im letzten Moment entschloss sich Sally, die Noten für das Vorsingen doch mitzunehmen. Sie holte die Wohnungsangebote aus dem Papierkorb, strich sie glatt und legte sie auf das abgezogene Bett. Heb bitte das Telefon ab, oder wir müssen wieder vorbeikommen, sagte Mor und legte für einen Moment die Wange an ihre.
In den folgenden Wochen riss der Kontakt keineswegs ab. Xane meldete sich, aber in viel größeren Abständen als früher. Sie drängte niemals auf ein Treffen. Das Vorsingen bei Dammaschke verlief passabel; den Job bekam Sally nicht, aber er nahm sie immerhin in seine Kartei auf, Kategorie Schlager und Chansons, Xane nannte das einen Riesenschritt.
Den lange geplanten Ausflug mit großer Kinderzusammenführung, also mit Mors Töchtern und Baby, verschob Sally mittels verschiedener Ausreden immer wieder. Sie stellte sich vor, wie Xane einen Picknickkorb trug und Mor eine Kühltasche, und dass die Kinder sauberer waren als Baby und dauernd Bitte und Danke sagten. Dass man einander Blicke zuwarf wie auf dem Spielplatz, wenn sie Baby Schlumpfeis kaufte und
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