Quasikristalle: Roman (German Edition)
aus dem Zimmer, sie kämpfte wie ein Flugzeug gegen die Erdanziehung, noch drei Schritte, brumm, und sie saß neben dem Bett. Sie legte Xane die Bonbonniere auf die Bettdecke und bemerkte zu spät den Drainageschlauch, der darunter hervorhing. Sie riss die Schachtel in die Höhe. Entschuldige, tut das weh, fragte sie.
Nein, sagte Xane heiser, man kommt inzwischen ohne Bauchschnitt aus, und wieder zerfiel ihr das Gesicht und wurde rot und flüssig.
Xane, begann Sally, das ist keine Tragödie, du bist jung und …
Sag du mir nicht, was eine Tragödie ist, fauchte Xane unter Tränen, du hast ein Kind, das du gar nicht wolltest, warum bist du gekommen, ich wollte niemanden sehen.
Sally schwieg und sah auf die Bonbonniere.
Magst du eine, flüsterte Xane, und sie nickte.
Sally öffnete die Schachtel, und so aßen sie die Pralinen, eine nach der anderen.
Ich hab gar nicht gedacht, dass du eigene Kinder willst, sagte Sally.
Xanes Augen liefen wieder über, und sie rieb sich die Fäuste hinein. Sie wollte nicht weinen und weinte umso mehr, je wütender sie es zu bekämpfen suchte.
Ich hab den Mädchen Schuhe gekauft, stammelte sie, von ›Elefanten‹, wunderschöne Schuhe, ein Paar grün, eines altrosa, weil die Kleine so oft in Hundescheiße steigt, und deshalb wollte ich ein zweites Paar zum Wechseln, und natürlich hab ich ihnen, wenn sie bei uns waren, diese Schuhe hingestellt, damit sie sie tragen, meinetwegen abwechselnd, aber stell dir vor, jetzt schreibt uns ihr Rechtsanwalt, wir würden die Kinder zwingen, nur von uns gekaufte Sachen zu tragen, und sozusagen selbst auf der Schuhebene gegen Oma Anke arbeiten, was einer gewaltsamen seelischen Beeinflussung der Kinder gegen ihre engste Bezugsperson gleichkommt!
Die ist doch komplett gestört, sagte Sally. Wenn du willst, stech ich ihr die Reifen auf.
Ich will nicht nur halbe Kinder, denen ich nicht einmal Schuhe kaufen darf, wimmerte Xane.
Rotz lief ihr aus der Nase, während sie nach einem Taschentuch suchte.
Wie lang musst du hierbleiben, fragte Sally.
Noch mindestens drei Tage, sagte Xane, bis sie die Schläuche ziehen und die Nähte.
Sie schwiegen wieder. Sally schaute auf die Bettdecke, drehte eine Praline in den Fingern, bis sie weich wurde und abfärbte, und kämpfte weiter gegen ihre Beine, die wippen wollten, wippen und wegrennen. Die Bettwäsche war weiß, dort war sie hellgelb gewesen. Auf der glatten weißen, nicht hellgelben Fläche über Xanes malträtiertem Bauch tauchte er schließlich auf, der befreiende Satz, den sie trotzdem nur mühsam herausbekam: Das letzte Mal war ich im Spital, um meine Mutter zu sehen.
Na toll, sagte Xane, dann ist es ja diesmal leichter für dich.
Ja, murmelte Sally, schon.
Lass Baby schön grüßen, sagte Xane, und nimm ihr den Rest von dem picksüßen Zeug mit.
Danke, sagte Sally, und alles, alles Gute.
Wenn ich bekleidete Menschen male, denke ich immer an
nackte Menschen oder an bekleidete Tiere.
– Lucian Freud –
5 Herr Özkan verweigert also die Samenspende, soso. Der frühe Montagmorgen beginnt mit einem Problem, das nur ein Witzbold handfest nennen würde. Montagmorgen, das ist ungewöhnlich, aber zweifellos besser als am Nachmittag. Erstens sind alle Mitarbeiter frisch vom Wochenende, und wenn nicht frisch, dann zumindest aufmerksam, weil sie gerade erst umgeschaltet haben, von Frei-auf Arbeitszeit. Veränderungen fördern die Konzentration, der Trott lässt sie ersterben. Deshalb steht Frau Doktor Guttmann manchmal mitten im Tippen auf und stellt sich ein paar Minuten ans Fenster. Das gönnt sie sich, voller Selbstbewusstsein, denn davon profitiert selbst ihre ohnehin erstklassige Arbeit.
Zweitens ist am Tagesanfang noch Luft nach hintenraus, nicht wahr? An den meisten Nachmittagen, und gerade am Wochenbeginn, sind die Zeitpläne ins Uneinholbare verrutscht, und wenn sich die ersten Patientinnen beschweren, reagieren einzelne Mitarbeiter nicht mehr so elastisch, wie sie es dank all der kostspieligen Schulungen eigentlich sollten. Sie sind bestrebt, weitere Verzögerungen möglichst schnell aufzulösen, die verkniffenen Gesichter im Warteraum vor Augen und den eigenen Blick flehend auf die Feierabend-Ziellinie gerichtet.
Möglichst schnell ist hier jedoch keine Option. Denn dieser Özkan würde womöglich abhauen, er scheint ja bereits kurz davor zu sein. Wir brauchen ihn aber, buchstäblich einen Teil von ihm. Und seine Frau liegt noch im Aufwachraum.
Das wäre schade, denkt Heike Guttmann
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