Quasikristalle: Roman (German Edition)
Patientin nach der Vollnarkose kollabiert, was zum Glück so gut wie nie vorkommt, entschuldigt sie sich anschließend mit einer längeren Beratung bei allen, die warten mussten. Was nicht nur diskret ist, sondern impliziert, dass hier jede ein längeres Gespräch bekommt, falls sie es einmal brauchen sollte.
Nach den ersten beiden Ultraschallen hat sie die Wartezeit auf fünfzehn Minuten heruntergedrückt, das ist wiederum fast zu kurz, um ernst genommen zu werden. Sie steht auf und tritt ans Fenster. Lennart hält heute sein Deutschreferat, man darf ja gespannt sein, was da herauskommt. Er ist ein schlauer Junge, aber für Sprachen hat er kein Faible. Warum die Zehntklässler im einundzwanzigsten Jahrhundert mit Maria Stuart traktiert werden, bleibt ihr ohnehin ein Rätsel. Besonders die fünf Aufstiegstürken in seiner Klasse, was die wohl später mit Schiller anfangen sollen?
Sie ruft zu Hause an und erinnert Frau Jänicke an die Fußballtrikots. Frau Jänicke beruhigt sie, sie hat bereits daran gedacht, sie zu waschen und zu bügeln, das geht in Lauras Team reihum. Die anderen Mütter stöhnen, aber Heike hat auch dafür Frau Jänicke, denn dafür, unter anderem, arbeitet sie sich ja in der Klinik den schmalen Arsch ab.
Die Mädels haben morgen Nachmittag ein Freundschaftsspiel in Spandau.
Haben Sie die Trikots nachgezählt, fällt Heike ein. Frau Jänicke gibt zu, dass sie daran nicht gedacht hat. Wie viele es sein müssen, weiß Heike nicht genau. Elf Spielerinnen, ein paar Ersatzleute, sagen wir, sechzehn? Zählen Sie nach und melden Sie sich, wenn es entscheidend weniger sind, bittet Heike und legt auf.
Sie geht zurück an den Computer und ruft die Akte der nächsten Patientin auf. Frau Molin, die sich endlich zur IVF entschlossen hat. Heike kennt sie seit fast zwei Jahren. So lange trödelt sie herum, um mit ihrem verbliebenen Eileiter auf natürlichem Weg schwanger zu werden. Heikes Erfahrung ist, dass Patientinnen mit derart kritischen Eileiterschwangerschaften, wie Frau Molin sie laut OP-Bericht gehabt hat, oft auch einen zweiten unbrauchbaren Eileiter haben. Man kann leider nicht reinschauen, in die Eileiter. Es gibt selbstverständlich Gegenbeispiele, Frauen, die erst an einer EU halb verblutet sind und später mit der anderen Seite noch eine Handvoll gesunder Kinderchen bekommen haben. Man weiß es eben nicht. Die Molin klammerte sich lange an die Bemerkung ihres Operateurs von damals, dass ihr linker Eileiter völlig normal ausgesehen habe, während der rechte, wo das Malheur passiert war, an mehreren Stellen mit dem Dünndarm verwachsen gewesen sei, vermutlich Narbengewebe nach einer Blinddarmoperation im Kindesalter. Aber ein Eileiter muss frei schwingen können, sonst kommt die Eizelle nicht hindurch, die nur von Härchen weitergetragen wird, winzigen Härchen, die wogen wie ein Weizenfeld im Wind.
Wenn man bedenkt, dass der Mensch zum Mond fliegt, sind seine Eileiter erstaunlich fehleranfällig konstruiert.
Das lässt sich wahrscheinlich nur evolutionär erklären, mit der steinzeitlichen Horde, wo die absurd arbeitsintensive Brut von den Kinderlosen mitbetreut wurde, weshalb nicht jedes weibliche Wesen unbedingt selbst Nachwuchs haben muss. Erst letztens hat ein Forscher in einem Aufsatz die provokante Frage aufgeworfen, wofür Frauen eigentlich so alt werden, wo sie doch mehr als die Hälfte ihres Lebens reproduktiv nutzlos sind. Die Antwort: Großmütter! Unentbehrlich bei der Aufzucht der Enkel, und vermutlich als sozialer Kitt für alle anderen.
Heike hat die Zyklen dieser Molin ein paar Monate lang gutmütig gescreent, denn hier, in dieser Klinik, gibt es keinen Druck auf die Patientinnen. Niemand wird, anders als in mancher kleineren Praxis, alternativlos in Richtung IVF gedrängt, sie haben reichlich Kundschaft, auch aus dem Ausland, Frauen von Scheichs, reiche Russinnen, Chinesinnen und so weiter. Deshalb sind sie Marktführer in der Hauptstadt, wegen des internationalen Rufs ihres Klinikleiters, und weil sie groß genug sind, um gelassen zu sein.
Wie sich gezeigt hat, hat die Molin noch ein paar andere Probleme als den gesprengten Eileiter. Der Schleimhautaufbau ist nicht grandios, da rutscht ein befruchtetes Ei vielleicht glücklich durch, findet aber nicht ausreichend Nest in der Gebärmutter vor. Eine Zeitlang musste sie sich mit Östrogenpflastern bekleben. Und dann reifen die Eizellen meistens auf der falschen Seite, da, wo die Molin keinen Eileiter mehr hat. Ich hab
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