Quasikristalle: Roman (German Edition)
es nichts anderes zu sagen gibt, bitte melden Sie sich wieder, wenn es hinter Ihnen liegt.
Ich werde vierzig, antwortet Frau Harnik-Schwartz, meine Krankenkasse ist fein raus.
Wir reden darüber, wenn Sie das hinter sich haben, sagt Heike, fahren Sie erst einmal nach Hause und ruhen Sie sich aus.
Ich fahre jetzt erst einmal zum Golf, sagt Frau Harnik-Schwartz trotzig, ich muss meinen Mann dort abholen, und vielleicht tut mir eine Runde ja gut.
Sie reicht Heike die Hand, dreht sich abrupt um und geht. Jetzt sollte Heike sich beeilen, eine halbe Stunde Bauch-Beine-Po könnte noch zu schaffen sein. Bevor sie nach Hause fährt, wo sie ihr glückliches, pralles Leben erwartet, der Sohn, die Tochter, der Fisch, das Ergebnis des Deutschreferats, die gebügelten Fußballtrikots, ihr inzwischen eisgrauer, aber weiterhin immens viriler Manfred, der heute Abend einen Gast mitbringt aus den USA, deshalb der Fisch, mit Amerikanern muss man vorsichtig sein, manchmal sind sie Vegetarier, oder Juden, aber danach kann man vorher ja schlecht fragen.
Heike geht auf die Toilette und wäscht sich ausgiebig die Hände, mit sehr heißem Wasser. Sie wird wieder unter den Letzten sein, die nach Hause gehen. Draußen ist es still, aber vielleicht empfindet sie das genau in dem Moment, als es laut wird. Laufschritte, aufgerissene und zugeschlagene Türen. Man ruft ihren Namen. Sie trocknet sich ab und wirft sich einen Blick im Spiegel zu. So geht das nicht mehr weiter, sie hat Schatten unter den Augen. Sie atmet ein und strafft die Schultern, da geht die Tür auf, eins von den Empfangsmädchen, Frau Doktor Guttmann, bitte, kommen Sie, schnell, sie tritt auf den Flur, schräg gegenüber steht die Tür zu ihrem Zimmer, die sie angelehnt hat, nun offen wie ein Scheunentor, darin verschwindet gerade der Kollege Steinwendner, nicht mehr in Grün, das wäre ja völlig jenseits, sondern in Feierabendmontur, Hose und Jackett, hier ist sie, ruft das Mädchen ihm hinterher, aber Steinwendner eilt unbeirrt durch Heikes Zimmer und dreht sich nicht einmal zu ihr um, er bleibt erst am Fenster stehen. Der Ausblick von seinem Zimmer ist weniger gut, es geht nach hinten, in einen teuer bepflanzten, aber eben: in einen Hinterhof, wie gesagt, er ist noch nicht lange dabei, er ist kein Partner der Gemeinschaftspraxis, und wer weiß, ob er es je werden wird. Das Mädchen vom Empfang ist stehengeblieben und weiß nicht mehr weiter. Es rudert mit den Armen, deutet den Flur entlang Richtung Ausgang, dahin, woher es gekommen ist, aber gleichzeitig in Heikes Zimmer, auf den massigen Rücken von Steinwendner. Draußen, begreift Heike, das, worauf ihre Aufmerksamkeit gelenkt werden soll, ist draußen. Sie entscheidet sich für den kurzen Weg und folgt Steinwendner. Ganz leise, in der Ferne, sind schon Sirenen zu hören, Lennart hat das als kleines Kind geliebt und mitgesungen, tatüü, tataa, Laura nicht, die hat sich heulend die Ohren zugehalten, so sind wir alle ein einzigartiges, unerklärliches Produkt unserer Gene, unseres Geschlechts und Charakters.
Auf dem Parkplatz wütet Frau Harnik-Schwartz. Sie hat ihren Golf-Trolley aus dem Auto geholt, aufgeklappt steht er da, als wartete er auf den Caddie. Soweit man das erkennen kann, schwingt sie ein Dreier-Eisen, die sind inzwischen selten geworden. Sie hat mehrere Windschutzscheiben zertrümmert, milchig blind, wie von Spinnweben überzogen, liegen sie im Nachmittagslicht. Ein Seitenspiegel hängt, nur noch dünn verbunden, herunter, und gerade nähert sie sich einem älteren gelben Golf. Mit einem Ruck sticht sie das Seitenfenster ein, sie dreht dazu das Eisen blitzschnell um und stößt mit dem Griff. Die Windschutzscheibe bleibt diesmal verschont. Macht sie soziale Unterschiede? Bonzenbestrafung, wie die Kreuzberger Autonomen, die gelegentlich Nobelkarossen abfackeln? Falls sie der Reihe nach vorgeht, ist das nächste Auto Steinwendners anthrazitfarbener Audi. Daneben steht Heikes Cabrio. Um Himmels willen, stöhnt Steinwendner, das gibt’s doch nicht, aber Heike, unvorhersehbar und rätselhaft für sich selbst, hebt langsam die Hand vor die Augen, als blendete sie die längst verschwundene Sonne, und sagt mit pelziger Zunge einen Satz, den sie manchmal Manfred und den Kindern gegenüber verwendet, aber niemals, unter keinen Umständen, gegenüber all den Frauen, die sich Kinder wünschen: Ach wissen Sie, Herr Kollege, es gibt wirklich Schlimmeres.
Die schlichte Wahrheit ist ungenießbar.
– Mark Twain
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