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Quasikristalle: Roman (German Edition)

Quasikristalle: Roman (German Edition)

Titel: Quasikristalle: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Menasse
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beobachtet hätte.
    Aber seither wusste Nelson, dass Sex keinesfalls überschätzt wurde. Echter Sex, bei dem es um die warme Haut eines anderen ging, um Gerüche und das Verschwimmen der Körpergrenzen, wurde im Gegenteil himmelschreiend unterschätzt. Vielleicht wusste das niemand so genau wie er, der durch das Gemetzel seine ganze Familie verloren und aus Abscheu, Trauer und Überzeugung jahrzehntelang keine Menschen berührt hatte, Handschläge ausgenommen. Ausgerechnet er, das lebende Denkmal eines Witwers, war belehrt worden, dass es nicht durchzuhalten war. Vielleicht wäre es durchzuhalten, aber es war nicht menschlich, auch nicht übermenschlich, es war einfach nur ungesund. Er würde das niemals zugeben. Es gab ein paar letzte Barrieren zwischen öffentlich und privat, die mussten selbst für ihn gelten, über den man fast alles zu wissen glaubte. Barrieren wie Hotelzimmertüren, schallgedämmt, mit Spion, hier und da.
    Sie trug einen hellblauen Pullover, diese Frau aus dem Berliner Bus, als er sie Monate später wiedersah. Er brauchte einen Moment, um sie einzuordnen, aber die Umstände gewährten ihm Vorsprung. Sie stand, zwei Kunden vor ihm, an der Kasse seines bevorzugten Coffee-to-go-Ladens, den größtmöglichen Kaffeebecher in der einen, ein Croissant, von dem sie schon abgebissen hatte, in der anderen Hand. Sie stellte den Kaffee auf den Tresen und wühlte in ihrer Handtasche nach Geld. Lass sie es nicht finden, bat Nelson eine übergeordnete Instanz, aber wahrscheinlich hatten die hektischen Bewegungen und das Rosa, das ihren Hals überzog, seinen Gedanken die Richtung vorgegeben. Er entschuldigte sich leise bei seinem Vordermann, trat aus der Reihe nach vorne und hielt dem Kassierer, den er kannte, einen Schein hin.
    Alles zusammen?
    Nelson nickte. Die Frau, den Unterarm in ihrer Tasche, schaute auf. Wie Wolken zogen Verdutztheit, Scham, Erleichterung und Wiedererkennen über ihr Gesicht.
    Das letzte Mal haben Sie mich gerettet, sagte Nelson, ich freue mich, dass ich Gelegenheit habe, mich zu revanchieren.
    Als sie draußen an einem Tisch in der Sonne saßen, entschuldigte sie sich dafür, dass sie ihn damals, im Bus, nicht erkannt hatte. Am nächsten Tag sei ein Porträt in der ›Zeit‹ erschienen, und da erst habe sie begriffen, wen sie unter ihrem Regenschirm zur U-Bahn gebracht habe. Nelson ärgerte sich einen Moment lang, dass wieder einmal so viel festzustehen schien über ihn, dass er nicht ein einziges Mal, wie andere Leute, einfach jemanden kennenlernen konnte und die Ausgangslage war für beide gleich.
    Wie bedauerlich, dass Sie diese Zeitung lesen, scherzte er, und sie gab zurück: Ich wette, Sie waren schon in allen.
    Nelson gestand, dass er sich selbst manchmal verleugne – oh nein, aber mit diesem Kerl werde ich oft verwechselt – , zum Glück werde er, anders als seine Freunde glaubten, nur sehr selten erkannt. Warum hatte er das gesagt? Es klang selbst in der Verneinung hochtrabend. Sie sah ihn staunend an. Sie war lebendig und so unglaublich anwesend. Sie war für ihn da, jetzt, in diesem Moment. Sie musterte ihn unverstellt, so wie er selbst es vorhin nur aus der Deckung gewagt hatte. Wenn sie sprach, benutzte sie als zweite Stimme eine Anzahl von Gesten, präzise und originelle, kein Gefuchtel. Sie teilte die Luft wie einen Vorhang, setzte Punkte mit dem Zeigefinger und formte mit beiden Händen luftige Körper. Es sah aus wie ein Armballett, ein bisschen nervös, aber rhythmisch. Nelson hielt sich beim Sprechen bewusst vollkommen still. Es war ein Schutz, den diese Frau nicht brauchte. Sie schien ihm jetzt wieder jünger als damals im Bus. Er fragte sie nach ihrem Alter. Er spürte dem Unterschied nach: Du hast laufen gelernt, und ich wurde Vater.
    Trotzdem sind wir in der Lage, uns irgendwie primitiv zu verständigen, sagte sie und imitierte dazu die Bewegungen einer Gebärdendolmetscherin.
    Manchmal war es so einfach mit anderen Menschen. Er wusste, dass es in seinem Leben nur wenige Nischen gab, erlaubte Umwege, Überraschungen. Er hoffte, sie habe ein bisschen Zeit. Ein, zwei Stunden, sie könnten einander ein wenig kennenlernen, und vielleicht bliebe ihm etwas davon, ein Farbtupfer, ein freundlicher neuer Ton.
    Am Nebentisch erwähnte jemand das John-Soane’s-Museum; Nelson nahm es als Wink. Sie hatte nie davon gehört, war aber begeistert, dass er es ihr zeigen wollte. Sie hatte zwei Stunden bis zu einem Lunch mit Freunden, die beruflichen Termine, deretwegen sie

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